Arbeit macht frei
Jo Fabians „Vaterlandskomplex“
Früher war alles einfacher. Als Erwin Piscator, Vater des proletarischen Theaters im Berlin der Weimarer Zeit, die Fahne der Arbeiterklasse und des Kommunismus hochhielt, wußte er, was richtig und falsch war. Eine politische Revue bei Piscator? "Einer faßt einen Gedanken, einer eine Fahne", heißt es in "Whisky And Flags", dem ersten Teil von Jo Fabians "Vaterlandskomplex"-Trilogie, die jetzt im Frankfurter Mousonturm zu sehen war. Bei dem Ostberliner Choreographen und Theatermacher und seiner Gruppe "Example Dept." säumen die roten Fahnen in Reih und Glied die Seitenwände der Bühne. Ab und zu knallt eine zu Boden, doch das stört niemanden mehr. Die Zeiten sind nach dem Zusammenbruch der DDR wieder bewegt, aber eine politische Utopie scheint heute schwerer zu formulieren denn je.
Die Naturwissenschaft hat auf diesen Zustand der Indetermination schon längst reagiert. Position und Geschwindigkeit eines Teilchens im Raum sind gleichzeitig nicht genau zu bestimmen, formuliert der Physiker Heisenberg die nach ihm benannte Unschärferelation, und Fabian macht sie sich sowohl für den Tanz als auch für die deutsche Geschichte zu Nutze. Zwei tragikomische Clowns (Jörg Steinberg, Volker Herold) fungieren als Sinnbild für die gesamte Arbeit: Sie haben in schönster Beckett-Manier ihre Schuhe vertauscht und haben so einen schweren Stand.
Fabian nimmt alles im Wortsinn. Aus einer historischen Position wird so kurzerhand eine Tanzposition, aus einer Frauenbewegung, Frauen, die sich auf der Bühne bewegen. Vier Tänzerinnen agieren wie Teilchen, die auf dem weißumrandeten Experimentierfeld der Bühne Positionen einstudieren. Mit ihren langen Zöpfen, Sonnenbrillen, weißen Blusen und schwarzen Röcken (Kostüme: Heidemarie Fabian) wirken sie derart uniform, das es schon wieder zum Lachen ist. Durch die unerbittlichen Wiederholungen, die sie perfekt synchron ausführen, entsteht eine raffinierte und feine Ironie, die die gesamte Trilogie durchzieht. Fast unmerklich beginnt der Tanz in den kleinen Gesten ihrer Hände und Arme. Die hart und prononciert gesetzten Bewegungen wirken dabei unheimlich militärisch, ohne es wirklich zu sein. Der Tanz ist für Fabian auch ein Spiel mit der Erotik und der Faszination, die das uniform Geformte in uns auslöst. Es gibt keine Welt jenseits der Bühne. Das Theater ist eine Welt für sich, die Fabian in endlosen Selbtsreflexionen auf den Probenprozeß hermetisch abriegelt. Doch gerade im scheinbaren Ausschluß der gesellschaftlichen Wirklichkeit, werden deren Konturen umso deutlicher erkennbar. Fabian entdeckt den latenten Faschismus im alltäglichen Umgang der Menschen miteinander, im Arbeitsprozeß, dem sie sich unterwerfen, in den scheinbar belanglosen Floskeln und Beleidigungen, die sie sich gereizt an den Kopf werfen. Er zeigt den Tanz als militärische Operation, die Bühne als Exerzierplatz und die Proben zum ersten "opportunistischen Widerstandsballett" als Zwangsarbeit, die die Menschen zu Maschinen degradiert. Fabin reizt das im zweiten Teil der Trilogie, "Keine Gnade", gnadenlos aus. Jörg Steinberg spielt darin einen verklemmten Fan der Frauentanzbewegung, der sich in seiner Phantasie, die prompt Bühnen-Realität wird, als kleiner Diktator entpuppt. Aus der Losung "Tanz macht Spaß" wird "Arbeit macht frei". Fabians strenge Mittel wiederholen dabei keineswegs das, was sie darstellen. Um das zu verhindern, bedient sich der Theatermacher einer Methode, die in der literarischen Moderne Gang und Gäbe ist: Er entwertet alles Gesagte und Gezeigte im Moment des Zeigens selbst. Nichts darf sich verfestigen, setzen oder verabsolutieren. Alles bleibt Spiel. Nur so entgeht die Szene der Totalität, die sie aufzeigt.
Im dritten Teil schließlich, "Die letzte tanzende Kommunistin vom Prenzlauer Berg", läßt Fabian von einem weiß gekleideten Mädchen alle Dinge aus der Welt einfach streichen. Wie schon in Heiner Müllers "Bildbeschreibung" bleibt auch hier die sinnstiftende Mitte leer: Die letzte tanzende Kommunistin tanzt nicht, sondern wartet auf eine bessere Zukunft. Die Bühne ist mittlerweile zu einem Gefängnis geworden, ein Bild- oder Kopfraum, den drei Tänzerinnen unermüdlich abschreiten. Das Licht wandelt sich in prächtigen Farbnuancen, eine Gestalt in einer Ritterrüstung sitzt schweigend vor dem Käfig. Die Ästhetik, die Fabian im letzten Teil der Trilogie verwendet und die er nach eigenen Aussagen schon mitte der achtziger Jahre entwickelt hat, ohne die Arbeiten von Robert Wilson oder Jan Fabre zu kennen, wirkt heute und hier im Westen wie eine Zitatensammlung aus dem letzten Jahrzehnt der Avantgarde. Nach nur fünfzig Minuten verlassen die drei Tänzerinnen ihr Bühnengefängnis und blicken demonstrativ ins Publikum. Das Spiel ist aus. Was wird, weiß niemand.
Jo Fabian und seinem Ensemble gelingt es, politisches Theater zu machen, gerade indem sie es verfehlen. Eine genauere Positionsbestimmung in bewegten Zeiten läßt sich unter Berücksichtigung der Heisenbergschen Unsch„rferelation, gefährdert durch erheblichen Whiskykonsum schwer denken.