Trauriger Abschied und grausames Spiel

Pina Bausch zeigt „Café Müller“ und „Le Sacre du Printemps“ im Frankfurter Opernhaus

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Es wird Tag im Café Müller. Zwei mondsüchtige Frauen, übriggebliebene der Nacht, wandeln blind durch die Szene, stoßen sich an Wänden, Tischen und Stühlen, suchen Halt. Unmerklich fast greifen sie sich ans Herz, den Blick dabei stets scheu gesenkt. Die Musik von Henry Purcell setzt ein: "Remember Me", als seien Leben, Liebe und Leidenschaft bereits verflogen bevor der Augenblick der Vorstellung sie einfangen könnte. Pina Bauschs Choreographie "Café Müller" aus dem Jahr 1978, mit der sie zusammen mit dem bereits 1975 entstandenen "Frühlingsopfer" jetzt zum ersten Mal in der 22jährigen Geschichte ihres Wuppertaler Tanztheaters in Frankfurt gastierte, ist eine Abschiedsklage.

Die Menschen an diesem öffentlichen Durchgangsort treten nicht auf, sie erscheinen, wehen oder fegen durch die Szene, sinken zu Boden oder fliehen sie wie die Hand die heiße Herdplatte. Ein Mann im Anzug wirft auf der Flucht vor jeder Berührung hektisch Stühle und Tische um. Eine Frau mit roter Perücke tippelt verzweifelt durch die Szene als müsse sie dringend aufs Klo. Ein Mann und eine Frau werfen und drücken sich abwechselnd mit voller Wucht gegen die Wände. Ihr Kuß wurde vorher von einem Dritten arrangiert, der die Frau dem Mann anschließend wie ein Opfer auf die Arme legt. Doch dieser läßt sie teilnahmslos abrutschen. Durch die mechanische Wiederholung der Szene kippt die Ohnmacht der Frau in ein Wollen um. Sie springt ihrem Partner selbst in die Arme, verwandelt ihre Unfreiheit in Freiheit, indem sie die Szene ironisch wendet. Alles in diesem ersten Teil des Abends ist Klage, Schmerz über den Verlust des oder der Geliebten, ein langer Abschied beseelt von tiefer Trauer, verwandelt in verzweifelte Komik, brutal und doch unbeschreiblich zart und menschlich zugleich.

Und am linken hinteren Bühnenrand steht sie in einem weißen schlichten Kleid mit ihren langen dünnen Gliedmaßen, fast schon verwelkt, eine spröde und doch lasziv wirkende Fin-de-siècle Gestalt, ein Emblem der Trauer: Pina Bausch. Mechanisch und steif geht sie, hält dabei ihre Arme ausgestreckt mit den Handflächen nach außen als wolle sie Hilflosigkeit, Offenheit, Ratlosigkeit aber auch Abwehr, Angst und Schutzbedürfnis zugleich signalisieren. Fast verschmilzt sie mit der grauen Wand. Jede ihrer spiralförmigen geführten Gesten betont die Weichheit ihrer Gestalt und löscht sie gleichzeitig aus. Wie schnell kann Derartiges in unerträgliches Pathos umkippen. Nicht so bei Pina Bausch. Sie komponiert die Szenen mit Gesten und Körpern, malt sie mit Licht: ein bewegendes impressionistisches Gemälde entsteht, dessen Tupfer das bloße Abbild des Alltäglichen auflösen, um die Emotionen dahinter freizulegen. Mit Stücken wie Café Müller hat Pina Bausch ihren Ruhm begründet. Ihre Dramaturgie verzichtet auf übergreifende Handlungsbögen zugunsten von Binnenspannungen, die ihre Tänzer-Darsteller aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen erzeugen und ausfüllen. Pina Bauschs Theater reinigt den Blick von Überflüsssigem und gibt allen daran Beteiligten ihre Geschichte als körperliche Erfahrung zurück. Ihr Beispiel hat, vor allem in der sogenannten "Freien Szene", Schule gemacht. Wo Bausch jedoch jede Geste noch psychologisch unterfüttert, haben die eigenständigeren unter den von ihr Inspirierten in den achtziger Jahren das Prinzip der Wiederholung und das Erkunden der eigenen Geschichte ins radikal unpersönliche gewendet, die Formung des Körpers als formales Prinzip von Tanz und Theater noch gesteigert.

Ihre Choreographie von Igor Strawinskijs "Frühlingsopfer" dagegen stammt noch aus einer anderen Zeit. Sie bleibt viel stärker dem Modern Dance mit seiner Bodenständigkeit, seiner Erdverbundenheit und seinem Schwerpunkt auf dem Unterleib verhaftet, aus dessen "dunkler" Region heraus sich der Oberkörper aufbäumt, um blitzschnell wieder zusammenzufallen. Bausch überträgt die Bewegung der einzelnen Körper auf die Ordnung des gesamten Raumes, führt dort die Männer- und Frauengruppen ebenfalls im permanenten Wechsel von Zusammenziehen und Ausdehnung, "contract - release", gegeneinander. Ein pulsierender, pumpender Raumkörper entsteht, dessen immense Dynamik durch die Bevorzugung der Diagonalen noch unterstrichen wird. Bausch lädt vor allem ihre Tänzerinnen mit einer großen Wut auf, der einen Widerstand der Frau gegen ihre Opferrolle im sexuellen Ritus verrät. So fällt das Opfer im roten, halbdurchsichtigen Kleid am Ende völlig erschöpft weit weg von dem sie erwartenden Mann auf den Boden. Rolf Borzik hat den Boden mit brauner Erde ausgelegt wie einen Sandkasten. Das "Frühlingsopfer" ist nicht nur ein archaisches Bacchanal, sondern auch ein grausames Kinderspiel, in dem man sich besudelt. Ähnlich wie die Kooperation mit Saburo Teshigawara und Jan Fabre ist der Austausch mit Pina Bausch, der fortgesetzt und intensiviert werden soll, eine Berreicherung und eine Aufforderung, über die Grenzen und Möglichkeiten von Ballett und Tanz noch einmal anders nachzudenken. Nirgendwo sonst hat dieses Nachdenken im Moment einen besseren Ort als am Ballett Frankfurt und im TAT. Pina Bauschs erstes Gastspiel in Frankfurt macht uns schmerzlich bewußt, daß wir sie hier die ganze Zeit vermißt haben.