Die Bewegung gerinnt im Bild der Trauer

Anne Teresa de Keersmaeker und ihr Rosas-Ensemble triumphieren mit "Just Before" im Schauspielhaus

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 10 Jul 1998German

item doc

Mit Bedacht baut ein Tänzer einen Turm. Er stapelt Tisch auf Tisch und plaziert einen Stuhl obenauf, steigt hinauf und hängt sich mit nur einem Knie an die Trapezstange, die über seinem Kopf baumelt. Langsam schiebt eine Tänzerin die Möbelstücke unter ihm zur Seite. Ohne Netz und doppelten Boden hängt er da oben, wahrend unten auf der Bühne die ausgelassene Stimmung erstirbt. Eben noch hat ein vergnügtes Paar übermütig die Kleider getauscht und laut lachend durch den Zuschauerraum tollend Stierkampf gespielt, da gerinnen ihre Bewegungen zum Bild der Trauer. Eine Frau erzählt die Geschichte vom Tod einer Tänzerin, die ihrem Partner beim Tanzen einfach aus den Armen und damit aus dem Leben gleitet. Unmerklich fast, wie eine Geste, hat der Tod Einzug gehalten in Anne Teresa de Keersmaekers jüngstes Stück "Just Before", das sie zusammen mit ihrer Schwester Jolante erarbeitet hat.

Im Gegenzug zu ihrem Duo "FASE", das vergangene Woche auf der Bühne des Bockenheimer Depots zu bestaunen war, stellt "Just Before", das heute Abend noch einmal im Schauspielhaus zu sehen ist, das maximalistische Gegenstück zur minimalistischen Vorlage dar. Selten hat de Keersmaeker mit einem derartigen Reichtum an Bewegungen, Farben, Sprachen und Stimmen gearbeitet wie in diesem Stück, das um die Möglichkeit der Erinnerung kreist - den gerade vergangenen Moment des Titels, der unwiderbringlich verloren scheint. Wie der Turmbau am Schluß des dreistündigen Abends setzt sich auch die Erinnerung aus fragilen Momenten zusammen, die mit dem Verlust eines eindeutigen Referenzpunkt auch den festen Boden unter den Füßen verlieren.

Zu Beginn steht das elfköpfige Tanzensemble in Reih und Glied an der Rampe und erinnert sich. Jeder nennt eine Landschaft, einen Gegenstand und eine Person aus seiner persönlichen Vergangenheit und schließt daran, wie in einer Vorschau auf das Kommende, eine kleine Tanzsequenz an. Die elf Begriffstriaden klingen in den Ohren des Publikums wie kleine Rätsel, die zur Lösung drängen, indem sich jeder selbst daraus kleine Geschichten zusammenreimen kann. Immer wieder im Laufe des spannenden, in Rhythmus und Dichte nie abflachenden Abends werden einzelne Worte und Bewegungen aufgegriffen und ausgesponnen. Unten vor der Bühne sitzt eine Art Regisseur, der die Darsteller befragt und um Präzisierungen bittet. Plötzlich wird eine Geschichte von einem zweiten erzählt. Doch welche version die richtige ist, bleibt offen.

Anne Teresa de Keersmaeker hat für das Puzzle des Gedächtnisses eine kongeniale Form gefunden, die alle ihre bekannten Stilmittel aufgreift und doch verändert. Stühle und Tische säumen einen mit Wegen markierten Holzboden, um den die Tänzer in ständig wechselnden Figurationen Platz nehmen. Vom Rand her beobachten sie ihre Kollegen, kleiden sich vor einer Reihe von Spinden in der linken hinteren Ecke um, verschwinden in den Nischen des Bühnenarrangements und tauchen irgendwann irgendwo unversehens wieder auf. Typische Keersmaeker-Bewegungen wie Drehen, Strecken, Einknicken und Hinfallen sind nach wie vor erkennbar, doch werden sie von ihren elektrifizierenden Tänzern mit gänzlich anderem Duktus getanzt: roher, härter, immer nur bruchstückhaft ausgeführt, mal zerstörerisch ausladend, dann wieder ganz eng am eigenen Körper bleibend. Ihre Bewegungen wirken wie Erinnerungsfäden, für die es keinen Code mehr gibt, der ihre Lesbarkeit garantierte.

Doch de Keersmaeker denkt auch hier wieder stark von der Form her. Das Zentrum ihrer scheinbar offenen Szenen bildet wie immer die Musik - von Steve Reich, John Cage, Iannis Xenakis, Thierry de Mey, Magnus Lindberg und Claude Debussy sind es ausnahmslos Stücke für Schlaginstrumente. Die Choreographin integriert die sechs präzise und nuancenreich spielenden Musiker des Brüsseler Ictus Ensembles in ihr Spiel, plaziert vier Trommeln in einer kleinen Diagonalen in der Bühnenmitte, während ihr famoses Tänzerensemble um sie herum streicht, sie in ihrem Spiel gefährdet, bis sie ihnen schließlich die Instrumente und Schlagstöcke abnehmen.

"Just Before" weckt in der Verbindung von Sprache, Tanz und Erinnerung selbst Erinnerungen an andere Arbeiten - an William Forsythes "Die Befragung des Robert Scott" mit seinen hypnotischen Bewegungssequenzen, an Jan Lauwers "Le Désir" oder gar an Pina Bauschs unermüdliches Schürfen in den menschlichen Sehnsüchten. Und doch ist es unverkennbar eine Arbeit von Anne Teresa de Keersmaeker. Im Versuch, für sich und ihr Ensemble Neuland abzustecken, ist "Just Before" vielleicht sogar die stärkste Arbeit, die die 38jährige Choeorgraphin in der letzten Zeit gezeigt hat.