Kunst aus einem Kunstfehler

Der Tänzer und Choreograf Xavier Le Roy zeigt „Self - Unfinished“ im Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 30 Oct 1999German

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Das Bild ist mittlerweile zu einer Art Ikone geworden: ein nackter Rücken, ein in die Luft gestreckter Hintern und zwei Arme, die zu kleinen Flügelchen verkürzt sind. Kein Buchdeckel, kein Plakat zum Thema Körper, Bild und Inszenierung, auf dem es nicht zu sehen wäre, in einer Zeit, wo der „natürliche“ Körper von allen Seiten von (Werbe-) Bildern unter Beschuss genommen und von Implantaten verschönert wird. Fast ein Jahr nach der Premiere zeigte jetzt auch der Frankfurter Mousonturm in seiner viel zu kleinen Studiobühne, auf der dem Stück jede Plastizität verloren geht, Xavier Le Roys Solo „Self - Unfinished“.

In einem klinisch weißen Raum unter einer Batterie von Neonröhren entwirft der promovierte Molekularbiologe, der selbst zum Tänzer und Choreografen mutiert ist, eine Laborsituation, in der der Körper erforscht wird. Die Versuchsanordnung ist dabei, das schuldet er der wissenschaftlichen Exaktheit, stets die gleiche: rechts ein einfacher Tisch mit Stuhl, links ein Ghettoblaster, der während der ganzen Zeit der Aufführung keinen Ton von sich gibt und dazwischen eine Wand, die Le Roy als Anlauftelle und Widerstand dient. Erst am Ende, Le Roy hat die Bühne verlassen, erklingt Diana Ross’ Klassiker „Upside Down“, das wie ein nachträgliches Motto über jenem Stück stehen könnte, das wie kein anderes in der letzten Zeit unsere Vorstellungen vom bildhaften und vom bewegten Körper auf den Kopf gestellt hat.

Le Roys kleine Exkursionen nehmen stets am Tisch ihren Ausgang und kehren nach ihrem Ende auch wieder dorthin zurück. Am Anfang sitzt er konzentriert am Tisch, die Hände artig auf die Tischplatte gelegt, und isoliert zu hydraulischen Maschinengeräuschen jede seiner Bewegungen, setzt Arme, Beine und Beine nacheinander fein aufeinander abgestimmt in Bewegung als wäre er ein Roboter. Er geht in Zeitlupe rückwärts zur Wand, legt sich ab, steht auf und geht ebenso langsam wieder zurück. Er zieht sich sein schwarzes Oberteil über den Kopf, knickt nach vorne über, sodass ein faszinierendes Doppelwesen mit wahlweise vier Armen oder Beinen entsteht, wobei die Handflächen zu den Füßen zeigen, als käme er auf sich zu, wenn er sich rückwärts von sich entfernt. Er bewegt sich auf Knien mit geballten Fäusten wie ein Huftier, kippt die Beine über den Kopf, führt jeweils einen Arm und ein Bein zuammen und steckt sie ineinander wie die Glieder einer Kette. Die Arme sind bis auf zwei stumpfartige Flügelchen verschwunden, sein Kopf bleibt verborgen, während er auf den Schultern über den Boden rutscht und den nackten Hintern wackelnd in die Luft streckt als sei er ein Gesicht auf einem verstümmelten Torso. Seine bizarren Gestalten sehen aus, als hätte die DNA fehlerhaftes Erbgut zum Aufbau der Zellen transkribiert. Xavier Le Roy macht aus einem Kunstfehler Kunst, bis der Fehler wieder schön wird.

Dabei beugt er sich nie nach hinten wie es Zirkusartisten zu tun pflegen, sondern stets nach vorne als wolle er sich im Überfalten selbst betrachten. Der Blick auf das eigene Selbst wird ihm dabei im gleichen Maße unheimlich fremd wie er ihm neue Möglichkeiten der Bewegung eröffnet. Es ist ein Selbst, das stets im Prozess und daher eigentlich nie es selbst ist, ein unabgeschlossenes Körper-Ich, das weder Psychologie noch Tiefe kennt, das aber im Zug der Bewegung über die Bühne mühelos Elemente der bildenden Kunst, der Skulptur und der Biologie inkorporiert. „Self - Unfinished“ ist Versuch, einer radikalen Hinterfragung des Körpers und seiner Funktionsgesetze, den der Tanz als Mittel stillschweigend vorausetzt, eine Erforschung körperlicher Möglichkeiten, die den Körper als unendlich mutierbar vorstellen. Für Xavier Le Roys Körperbilder gibt es keine Vorschrift. „Self - Unfinished“ ist eine der schönsten, witzigsten und wichtigsten Produktionen des letzten Jahres.