Die Geburt des Tanzes aus dem Bild
Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte der französische Sänger François Delsarte eine Methode, um die Seele des Menschen anschaulich zu machen. Ohne daß er es im Sinn hatte, hat er damit dem modernen Tanz entscheidende Anstöße gegeben. Was Delsarte in Bewegung gesetzt hatte, war die Vorstellung, am Erscheinungsbild des Körpers, an seinen einzelnen Posen und Haltungen, innere Zustände ablesen zu können. Sein System ausdrucksvoller Gesten fand vor allen in Amerika der Jahrhundertwende bei zahlreichen Pionieren des freien Tanzes große Beachtung. Bekannter geworden sind in diesem Zusammenhang die Fotografien des Arztes Etienne Jules Marey und des Buchhändlers Eadweard Muybridge, die in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Bewegungsstudien anfertigten, in denen sie die natürlichen Bewegungsfolgen von Menschen und Tieren in einzelne Bilder zerlegten, um etwa zu beweisen, daß es durchaus Momente gibt, in denen Pferde mit keinem ihrer Hufe den Boden berühren. Die Methode der Chronofotografie ermöglichte es ihnen, zeitliche Abläufe abzubilden, deren einzelne Momentaufnahmen man in einer Art Daumenkino wieder in Bewegung versetzen konnte. So verwandelte etwa Isadora Duncan, Protagonistin der Tanzmoderne, in ihren Stücken statische Posen durch den Fluß von Energie in Tanz.
Auch der französische Tänzer und Choreograph Vincent Dunoyer geht in seinem neuen Stück Solos for Others vom Bild aus. Doch interessiert ihn dran weniger der körperliche Niederschlag einer seelischen Regung, sondern einzig und allein die Figur, die Linie des Körpers im Raum. In diesem Sinn steht Solos for Others, das jetzt im Frankfurter Mousonturm uraufgeführt wurde, ganz und gar in der klassischen Tradition. Was Dunoyer uns zeigt, ist eine Art Geburt des Tanzes aus dem Bild, das sich aus der Bewegung heraus einstellt und jeden Moment wieder in Bewegung übergehen kann.
Wie schon in seinen anderen Stücken Vanity und The Princess Project ist auch in Solo for Others die Grundanordnung denkbar einfach. Wie im Studio eines Fotografen ist ein blauer Hintergrund, dessen vordere Hälfte als Tanzfläche auf dem Boden liegen bleibt, an zwei Stangen nach oben gezogen. Das monochrome Blau erinnert gleichzeitig auch an eine Blue Box, auf die im Film- oder Fernsehstudio verschiedene Hintergrundmotive projiziert werden können. Drei Männer betreten von links die Bühne. Der Pianist Jan Michiels setzt sich an einen Flügel, der die linke Bühnenseite einnimmt, während Vincent Dunoyer und Etienne Guilloteau sich auf zwei Stühle an der rechten Seite setzen und zunächst einmal seinem Spiel lauschen. Michiels spielt während der ganzen 50 Minuten Ludwig van Beethovens 33 Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli, ein furioses Spiel von großer Dynamik und präziser Artikulation, absolut luzide in den rasanten Passagen wie transparent und zart in den lyrischen.
An der Vorderseite der Bühne, dort wo die Kamera des Fotografen plaziert sein müßte, steht hier ein Stuhl, auf den nach einer Weile Dunoyer Platz nimmt, während Guilloteau sich seiner Schuhe, Strümpfe und seines T-Shirts entledigt, um vor ihm zu posieren. Spielt Michiels 33 Variationen, hält Dunoyer 99 Fotografien in der Hand. Es sind Bilder aus all seinen anderen Soli, die er in Solo for Others noch einmal ins Spiel bringt, in dem er sie in der Tat von einem anderen ausführen läßt. Zufällig angeordnet, muß der Tänzer jedes Mal wieder nach vorne blicken, um zu sehen, was er als nächstes tun muß. Auf diese Weise entsteht ein Spiel der Blicke, das eine Suche nach der korrekten Pose auslöst, die sich aus kleinen vorbereitenden Bewegungen plötzlich herausschält, bevor sie wiederum durch Bewegung aufgelöst wird. Wenn Dunoyer gegen Ende das Tempo anzieht, fängt Guilloteau tatsächlich an zu tanzen.
Danach wird die Anordnung umgedreht. Hält nun Guilloteau die Bilder, tanzt Dunoyer seine eigenen Posen, und er tanzt sie besser als sein Partner. Auch hier setzt ein Spiel der Differenzen ein zwischen bereits Gesehenem und gerade Gesehenem, zwischen dem Bild in der Erinnerung und dem Bild vor unseren Augen, das zum Schluß sogar ganz verschwindet, wenn Dunoyer mit seinen Fotos vor der leeren Wand sitzen bleibt und es ganz den Zuschauern überläßt, Bilder dort hinein zu projizieren.
Trotz der präzisen Ausführung und dem subtilen Spiel mit der Wahrnehmung fehlt dem Stück am Ende jedoch eine Wendung, die unseren Blick aus der Bahn werfen könnte wie etwa die Filmeinspielung am Schluß von Vanity oder Dunoyers Tanz mit seinen eigenen Bildern in The Princess Project. Vincent Dunoyers Blick bleibt in Solos for Others stur geradeaus gerichtet und läuft so ins Leere.