Ein altes Testbild unterbricht die Sendung
Boris Charmatz, der an der Schule der Pariser Oper zum klassischen Ballettänzer ausgebildet wurde, macht seit zehn Jahren großartige eigene Stücke, die zu zeigen man in Frankfurt bislang sträflich vernachlässigt hat. Kurz vor seinem institutionellen Ableben schafft jetzt gänzlich unverhofft das Theater Am Turm doch noch Abhilfe. Mit seiner außergewöhnlichen Performance-Installation héâtre-élévision, die seit vergangenem Jahr auf Reisen durch die Theater und Museen der Welt ist, gastiert der junge Franzose jetzt im TAT. Eine Pseudo-Performance nennt sie Charmatz auch, weshalb er wohl auch die beiden Ts aus dem Worten Theater und Television im Titel gestrichen hat. Denn leibhaftige Tänzer gibt es dabei nicht zu sehen. Nur Videobilder laufen vor den Augen des Besuchers ab, der auf subtile Weise selbst zum eigentlichen Darsteller der Performance wird. Nur jeweils ein Zuschauer kann sich in die Installation hineinbegeben, die ganz auf seinen Körper zielt. Schon deshalb verbietet es sich, darüber rein aus der objektiven Distanz zu schreiben, weshalb dem Rezensenten dieses Mal das Wort ich gestattet sein muß.
Ich befinde mich in einem Raum im Keller des alten Gebäudes der deutschen Bibliothek, liege auf einem Kasten, der aussieht wie ein Klavier und schaue auf einen Fernseh-Kasten rechts über meinem Kopf, auf dem ich wieder Kästen zu sehen bekomme: ein leeres Theater mit roten Plüschsitzen, in dem ein Klavier gestimmt wird, und einen Raum im Raum, in den drei Tänzer und zwei Tänzerinnen eingepfercht scheinen und in dem ein ähnlicher Klavierhocker herumsteht wie der, auf den ich steigen mußte, um mich in diese für einen Zuschauer doch ungewöhnliche Position zu bringen. Das klavierähnliche Podest ist mit schwarzem Tanzboden ausgelegt. Doch anstatt zu tanzen, liege ich wie ein Käfer auf dem Rücken und bewege mich kaum, starre statt dessen auf den Bildschirm über mir, wo der Klavierstimmer, pling, pling, pling, immer wieder den selben Ton anschlägt, der irgendwo aus Lautsprechen, die um mein Klavierbett installiert wurden, an mein Ohr dringt. Plötzlich geht im Raum ein Licht an und wirft einen Schatten des Podests an die Decke als wäre es der Deckel eines Klaviers auf dem nicht irgendwelche Saiten, sondern ich gestimmt werde. Spätestens hier wird klar, daß mich Boris Charmatz mit seinen Bildern und Geräuschen durchdringen und zum Klingen bringen möchte wie ein Instrument, dessen Körper zu vibrieren anfängt, wenn man auf ihm spielt.
Neben meinem Kopfkissen befinden sich zwei kleine Lautsprecher, so daß die durchaus unangenehm murmelnden, brabbelnden und sabbelnden, schmatzenden und glucksenden Töne, die die Tänzer unentwegt produzieren, direkt in meine Gehörgänge gelangen. In hautenge Trikots gesteckt wie die Tänzer von Merce Cunningham prallen sie hart auf den Boden, der so geschickt ausgeleuchtet ist, daß sie sich tatsächlich darin spiegeln. Ich meine, ihre Erschütterungen am eigenen Leib zu spüren. Immer wieder ballen sie sich zu einer Masse zuckender Leiber zusammen, die ebenso unmotiviert wieder zerfällt. Plötzlich befinden sie sich auf der Theaterbühne, dann wieder in einem undefinierten Raum. Die Bilder springen hin und her. Ein altes Testbild unterbricht die Sendung. Merkwürdig grob in der Bildauflösung, bemerke ich, das Charmatz es, wie die anderen grobkörnigen Bilder zuvor, nur vom Fernsehapparat abgefilmt hat. Es sind Bilder von Bildern, die Bilder zeigen. Doch schon fallen die Tänzer wieder über ihre Bühne. Ist das flackernde Licht am oberen Bildrand tatsächlich auf dem Film oder doch nur ein Reflexion des flackernden Lichtes in dem Raum, in dem ich mich befinde?
In Boris Charmatz’ ausgeklügeltem und faszinierendem Labyrinth stehen Spiegel gegen Spiegel, auf daß sich darin die Bilder ins Unendliche fortsetzen. Mein Körper ist dazwischen geraten, Fluchtpunkt der sinnlichen Reize, die auf ihn einströmen und doch nur eine gespiegelter Reflexion, die sich im nächsten Spiegelbild fortsetzt. Am Ende, das Testbild hat jede Vorstellung vor meinen Augen gelöscht, erklingt zwei Mal eine kurze Klaviermelodie als sei das Stimmen des Instruments endlich geglückt. Als ich nach fünfzig Minuten wieder aus dem Raum gleitet werde, fühle auch ich mich merkwürdig gestimmt. Ein wenig maltraitiert von den Bildern und Tönen bin ich schon. Es gibt tatsächlich Angenehmeres und Einfacheres, dem man im Theater oder im Museum begegnen kann. Doch irgendwie haben Boris Charmatz’ ungewöhnliche Klänge in meinem Körper einen Resonanzraum gefunden, um sich dort auszubreiten und fortzusetzen.