Klang des Abschieds

Ballettanz 1 Jun 2003German

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Eine Kamera fängt den Unterkörper einer Tänzerin irgendwo im Raum ein und projiziert ihn auf einen Bildschirm, der im hinteren Bereich der langen, tiefen Bühne postiert ist. Dana Caspersen betritt die Bühne und stellt sich dahinter, ihr Körper montiert aus zwei Bildern, die nicht zueinander passen. Mit grotesk verzerrtem Mund erzählt sie von einem Lügner und einem Verräter, daß ihr Gegenüber ein falsches Leben führt, während sie ihr Oberteil mit spitzen Fingern wie ihre Haut vom Körper zieht. Plötzlich taucht sie ab und Georg Reischl, der als Übersetzer neben Caspersen, Prue Lang und Richard Siegal die Hauptlast von Anne Carsons Text über das Ende einer Beziehung zu tragen hat, springt wie ein Kasperle hinter dem Schirm nach oben.

Handelte Kammer/Kammer von der Verführung der Bilder, ist William Forsythes neues abendfüllendes Stück Decreation im Frankfurter Bockenheimer Depot in einem viel stärkern Maß der Akustik verpflichtet. Der Titel „Decreation“ geht auf Anne Carsons gleichnamige Oper zurück, in der die kanadische Schriftstellerin in drei ineinander geschachtelten Geschichten von Liebe, Eifersucht und dem Weg der Seele zu Gott erzählt. Aus diesen Dreiecksgeschichten gewinnt sie die Perspektive von Decreation als einem Prozeß der Selbsthinterfragung, als ein Abbau des Selbst und dessen Gewohnheiten, um Platz für Neues zu schaffen.

Von Forsythes ursprünglichen Idee, die Oper zu inszenieren, ist lediglich die Ebene des Klangs geblieben, die das Stück sehr stark prägt. Forsythe choreographiert das Gesicht seiner Tänzer, läßt den Mund Bewegungen des restlichen Körpers folgen und ihre Stimmen durch ihre grotesken Körper hindurchtönen. Ihr Klang entsteht unmittelbar aus der Bewegung heraus und wird dabei zusätzlich durch elektronische Filter deformiert und verfremdet. David Marrow hat dafür die Musik komponiert, die er auch live am Keyboard spielt. Sie besteht aus einzelnen Akkorden und Tönen, die nervös pulsierend zwischen Höhen und Tiefen unvermittelt springen und dabei jedes Mal in eine Leere zu stürzen scheinen. Passagenweise erinnert sie sogar an Kirchenchoräle, die spirituelle Dimension von Anne Carsons Oper einholen, während Ander Zabala dazu mit wunderschöner Stimme „I will always love you“ singt.

An der Entwicklung von Bewegungsphrasen und deren Sequenzierung im Raum ist Forsythe nicht mehr primär interessiert Statt dessen arbeitet er diesmal verstärkt mit körperlichen und emotionalen Zuständen, die den Körper befallen, sein Gewicht ausnutzen, ihn deformieren und zu Boden drücken. Forsythe richtet sein Augenmerk auf minimale Veränderungen und Verschiebungen im Körper, dessen veränderte Sensibilität er gekonnt choreographiert. Das rückt ihn in eine viel größere Nähe zu Choreographen wie Meg Stuart oder Boris Charmatz als zu jeder anderen Ballettkompanie in Deutschland oder irgendwo sonst. Seine fünfzehn phantastischen Darsteller bewegen sich auf ungeschütztem Terrain durch die Tiefe des Raumes. Beinahe roh zeigen sie ihre emotionale und körperliche Verletzlichkeit, die Forsythe durch Heranholen der Szenen an die Rampe und durch deren Distanzierung in den hinteren Bereich des Bockenheimer Depots rhythmisch geschickt moderiert. Mit hochfahrendem Ton heizt er rasch die Atmosphäre auf, um in der Hälfte des Abends eine lange, fast regungslose Phase zu schaffen, in der unser Blick auf Jone San Martin gelenkt wird, die zwischen Fabrice Mazliah und Sang Jija steht, der ihr von hinten zwischen die Beine aufs Geschlecht faßt.

Am Ende wird ein runder Tisch, der hinten neben dem Bildschirm gestanden hat, nach vorne geholt. Die Tänzer bringen ihre Stühle und setzen sich im Kreis um den Tisch herum, der mit Kohlestaub bedeckt ist. Roberta Mosca, eine brennende Zigarette zwischen den Fußzehen, rollt sich darüber, bis sich die schwarze Farbe ganz auf ihren Körper abgefärbt hat. Ruckartig verrücken die Tänzer am Ende dieser rituell anmutenden Szene ihre Stühle nach hinten und zerstreuen sich im Raum.

Die Geschichte vom Ende einer Beziehung, die das textliche Gerüst des Abends bildet, ist natürlich auch die Geschichte von der Auflösung und vom bevorstehenden Ende des Ballett Frankfurt. Deshalb ist Decreation auch im traditionellen Sinn kein Stück. Beschreibt es doch keinerlei dramaturgische Entwicklung, sondern breitet lediglich eine Situation, eine Haltung vor den Zuschauern aus, der man sich aussetzen muß. Dabei sind starke, beunruhigende Bilder entstanden, die das Zuschauen und Zuhören nicht einfach machen.

Schon einmal hat William Forsythe in einer Rückbesinnung auf den eigenen Arbeitsprozeß den Fortgang seines Schaffens neu zu bestimmen versucht. Das war 1986 mit Die Befragung des Robert Scott †, einem zur damaligen Zeit beinahe hermetisch anmutenden Stück, zu dessen Fragen und Material er in den vergangene Jahren immer wieder zurückgekehrt ist, ohne zwingende Lösungen formulieren zu können. Mit Decreation hat er auch Robert Scott im ewigen Eis begraben. Als Keimzelle für seine zukünftige Arbeit nach dem Ballett Frankfurt und als Befreiungsschlag wird man Decreation bestens in Erinnerung behalten.