Wanderungen und Notizen eines Besuchers
Wer hat mich eingeladen? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, mein Gedächtnis lässt mich in dieser Beziehung im Stich. Ich bin hier ganz einfach angekommen, um ein paar Wochen vor der Premiere die Proben von Visitors Only zu besuchen und den Entstehungsprozess zu verfolgen. Probebühne 2 des Schauspielhauses im Schiffbau, Zürich. Ein grosser Betonkasten, fast ein Bunker. Technisch gut ausgerüstet, um eine Theatervorstellung zu erarbeiten, aber kein Strahl Tageslicht. Die meiste Zeit wird tagsüber in diesen vier Wänden gearbeitet. Ein paar Mal täglich werden die Eingangstüren aufgemacht, um frische Luft reinzulassen. Draussen schneit es.
What can I do to improve my memory? Make a ‹To Do› List. For example, you may have a number of chores to do around the house but none of them in any particular order. What you can do is get a small pad of paper and write down the things that you have to do. Once you have this list, decide which task to do first, second, third, and so on. This will work if your list doesn't get too long. If the list gets too long, you're going to run into problems. (Traumatic Brain Injury Survival Guide by Dr. Glen Johnson)
Noch bevor ich mir eine Vorstellung vom Studio machen kann, werde ich ins Atelier mitgenommen, in dem das Bühnenbild gebaut wird. «Das ist echtes Schweizer Design, kein FAKE. Man kann darin leben. Eigentlich hätten sie einen Container kommen lassen sollen und das ganze Haus darin aufbauen, dann könnten sie es später vermieten. Sowas wird nicht für eine einzige Theatervorstellung gemacht.» Der erste Stock ist gerade fertig, man räumt bereits auf. Ein Gegenstand erregt meine Aufmerksamkeit: Eine Kettensäge. Damit wurden die letzten Handgriffe getan, kam der letzte Schliff zustande. Mit einer Kettensäge! Wer täte das nicht gerne? Zwei Tage später stelle ich in der Kantine fest, dass ich nicht der einzige bin, den die Maschine zu den wildesten Phantasien anregt: Über die Kettensäge wird lebhaft diskutiert.
Als ich ins Studio zurückkehre, sehe ich das vollständige Bühnenbild, diesmal in seiner «gefakten Version»: Ein Haus mit acht Zimmern auf zwei Stockwerken, aus Holzlattenrahmen gebaut, die mit Baumwollstoff bespannt sind, alles massstabsgetreu. Ich frage mich, ob es bei einem FAKE Abstufungen gibt: Wenn dies ein FAKE eines Bühnenbildes ist, dann ist das echte Bühnenbild doch auch einer? Welcher FAKE ist stärker, welcher schwächer? Der Bühnenbild-FAKE eines Haus-FAKES? Ein FAKE, der auch zeigt, dass er falsch ist? Das eigentliche Bühnenbild ist zwar schamlos illusionär, aber, abgesehen von seinem Aussehen, scheint die Konstruktion so solide wie ein echtes Haus zu sein. Warum betrachten wir ein Haus, das zufällig im Theater gebaut wird, am liebsten als FAKE? Und gibt es eigentlich ein Original dieses Hauses, oder wird das nur in unserem Kopf konstruiert?
Whether you are a homeowner cleaning up a few trees and limbs in the yard, a farmer cutting firewood and keeping the pasture clear, or a firefighter cutting a firebreak for a forest fire, you know how handy a chain saw can be! Chain saws are also great when you are interested in getting up close and personal with gasoline power. If you want to see a basic two-stroke engine in its simplest application, then a chain saw is the best place to start! (How chain saws work, by Marshall Brain)
Um mich an meine neue Umgebung zu gewöhnen und um Material zu sammeln, fange ich an, den gesamten Studioraum zu kartografieren. Das ergibt seitenlange Listen. Sie sind schier endlos. An den Wänden hängen Fotos aus Familienalben, aus Werbeprospekten und Zeitungen, aus Kunstbüchern. Porträts, Modelle, Popstars, Performances, Zwillinge, Puppen, Menschen aus aller Herren Länder. Familienszenen, Interieurs, Hausaltäre, Grafitti, Fotosammlungen. Stapelweise Bücher, Nachschlagewerke, Artikel und Downloads vom Internet über die Arbeitsweise des Gehirns, der Wahrnehmung und des Gedächtnisses. Neurologie, Kognitive Psychologie, Logik, Mystik, Psychoanalyse, Philosophie, Okkultismus, Künstliche Intelligenz, Religion. Romane, Kunstkritiken und Drehbücher. Kartons mit Videokassetten von Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Interviews, Lesungen, Aufnahmen des Arbeitsprozesses. Inventare, mögliche Abläufe, dramaturgische Notizen. Und, unvermeidlich, auch Listen. Einkäufe, Kaffeeverbrauch.
Ich schreibe alles auf. Das Erstellen von Listen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, das hört nie auf. Die Aufzählung von Dingen, die erledigt werden müssen, vermittelt das Gefühl, sie unter Kontrolle zu haben. Ob sie dadurch auch tatsächlich erledigt werden, ist eine andere Sache, dafür macht man einfach eine neue Liste. Pläne machen. Listen mit Büchern, die gelesen werden müssen, Listen mit Büchern, die geschrieben werden sollen. Auch flüchtige Notizen mit Beschreibungen, Gedanken. Benennen, notieren, aufzählen. Das genügt, grosse Ideen oder Taten braucht das nicht zu ergeben. Ordnen und neu ordnen, darum geht es, durch Austausch werden Ideen gleichwertig. Popkultur, Wissenschaft, Kitsch, Kunst. Jeder Zugang, jede Verbindung erfasst die Wirklichkeit auf eine andere Weise.
The essential business of language is to assert or deny facts. Given the syntax of language, the meaning of a sentence is determined as soon as the meaning of the component words is known. In order that a certain sentence should assert a certain fact there must, however the language may be constructed, be something in common between the structure of the sentence and the structure of the fact. This is perhaps the most fundamental thesis of Mr. Wittgenstein's theory. That which has to be in common between the sentence and the fact cannot, he contends, be itself in turn said in language. It can, in his phraseology, only be shown, not said, for whatever we may say will still need to have the same structure. (Bertrand Russell, Introduction to Wittgenstein’s Tractatus Logico-Philosophicus, 1922)
THE WHOLE CONCEPT OF EITHER/OR. Right or wrong, physical or mental, true or false, the whole concept of OR will be deleted from the language and replaced by juxtaposition, by AND. This is done to some extent in any pictorial language where two concepts stand literally side by side. These falsifications inherent in the English and other western alphabetical languages give the reactive mind commands their overwhelming force in these languages. Consider the IS of identity. When I say to be me, to be you, to be myself, to be others – whatever I may be called upon to be or to say that I am – I am not the verbal label ‹myself›. The word BE in the English language contains, as a virus contains, its precoded message of damage, the categorial imperative of permanent condition. To be a body, to be an animal. If you see the relation of a pilot to his ship, you see crippling force of the reactive mind command to be a body. Telling the pilot to be the plane, then who will pilot the plane? (William S. Burroughs, The Electronic Revolution, 1970)
Unter den vielen Fotos an der Studiowand hängen eine ganze Reihe von Aufnahmen des amerikanischen Künstlers Gordon Matta-Clark, der leerstehende Häuser mit einer Motorsäge bearbeitete und aus ihnen grosse Löcher herausschnitt. Ausschnitte, Gucklöcher, ganze Einheiten verändert, seltsame Perspektiven, die ein Haus umkrempeln. Das Haus auf der Bühne ähnelt jetzt einer Zitatsammlung, die grossen, rechteckigen Aussparungen wirken wie eine Art Readymade. Ein leerstehendes Haus, in dem es keine privaten Räume mehr gibt, ein leerstehendes Haus, dessen Geschichten, Erinnerungen und Traumata durch die Löcher nach aussen sickern. Wo es auch stehen mag, es zieht dort.
Fenster sind zu tief angebracht, Türen halbiert, im Fussboden klaffen Löcher, der Verlauf unserer Wahrnehmung uneben, unsere Erwartungshaltungen durchkreuzt. Ist das eigentlich noch ein Haus? Ich durchblättere Literatur über die Arbeit des Gehirns und erfahre, dass das Konzept «Haus» irgendwo in meinem Gedächtnis als ein Bündel kodierter Nervenverbindungen aufgezeichnet sein muss. Wahrnehmung wird auch durch eine Akkumulation von Erfahrungen bestimmt, wodurch überflüssige Informationen automatisch in Vergessenheit geraten und Gewohnheiten entstehen, durch die das Bedürfnis nach präzisen Wahrnehmungen, die zu Erkenntnissen führen, abnimmt. Eine radikal andere Ordnung der Wirklichkeit, wie zum Beispiel ein zersägtes Haus, erfordert dennoch Kreativität und neurochemische Aktivität, um neue Bezüge zustande zu bringen. Eine faszinierende Information: Für das Gehirn haben Erinnerung, falsche Erinnerung, Halluzination und Phantasie eine vergleichbare Struktur, nur vom Kontext, in dem sie auftauchen, lässt sich ableiten, ob sie richtig oder falsch sind.
A ghost is the alleged spirit of a dead person. Ghosts are often depicted as haunting places, especially houses where murders have occured. It is not clear why ghosts would confine themselves to quarters, since with all their alleged powers, they could be anywhere or everywhere at any time. If they really wanted to terrorize the neighbourhood, they could take turns haunting different houses.
There are those cases where otherwise normal people hear strange noises or have visions of dead people or of objects moving with no visible means of locomotion. Hearing strange noises in the night and letting the imagination run wild are quite natural human traits and not very indicative of diabolical or paranormal activity. Likewise for having visions and hallucinations. These are quite natural, even if unusual and infrequent, in people with normal as well as very active imaginations.
Many people report physical changes in haunted places, especially a feeling of a presence accompanied by temperature drop and hearing unaccountable sounds. They are not imagining things. Most hauntings occur in old buildings, which tend to be drafty. Scientists who have investigated haunted places account for both the temperature changes and the sounds by finding sources of the draftsn such as empty spaces behind walls or currents set in motion by low frequency sound waves produced by such mundane objects as an extraction fan. (Robert Todd Carroll, The Skeptic’s Dictionary, 2002)
In dem Augenblick, in dem jemand ein paar Sachen vor einem Durchlauf zur Seite schiebt, wird mir klar, wie stark der Studioraum selbst organisiert ist. Gibt es hier vielleicht irgendwo eine Hausordnung? Ich zeichne einen Querschnitt des Studios. So versuche ich, die Hierarchie besser zu erkennen. Es nutzt wenig, ausser den feststehenden Höhenunterschieden kann auf jeder Ebene fast alles verschoben werden. Da liegt ziemlich viel rum, Spuren intensiven Gebrauchs. Alle Mitarbeiter haben sich den Raum angeeignet, sind mit ihm vertraut. Jeder kennt das Protokoll. Jeder Gang führt jedoch zu kleinen Veränderungen, der Raum und die Menschen, die sich in ihm bewegen, schreiben sich gegenseitig. Wenn Besucher kommen, sind die Veränderungen etwas grösser, die Fugen ordnen sich anders an, neue Verbindungen kommen zustande. Ich setze mich an einen Tisch, an dem noch ein Platz frei ist. In den darauf folgenden Tagen kehre ich stets an diesen Platz zurück, der mir bereits zur Gewohnheit geworden ist, spüre im Studio mein eigenes Zuhause.
Trotz der schwarzen Linie, die den Bühnenrand markiert, beginne ich zu zweifeln. Ist das Haus, im Vergleich zum Studio als «realem» Raum, wirklich ein «FAKE»? Nach all den Wochen kommt einem das Haus ebenso vertraut vor wie das Studio, mittags essen wir sowohl vor als auch hinter der Linie Suppe. Das macht keinen Unterschied, in diesem Haus wird tatsächlich gelebt. Während der Proben nehmen die Performer regelmässig Informationen aus Situationen auf, die an anderen Stellen im Studio stattfinden. Mit Hilfe von Improvisationen und kleinen Witzen werden diese aus dem Stand integriert. Umgekehrt beeinflusst der Arbeitsprozess zweifellos auch die Wirklichkeit – ist mein Verhalten auf dieser Seite möglicherweise durchtränkt von Theatralität?
The air is still here, the air between the objects in the room. But the objects themselves are not there. Sometimes I have to think about the various objects in order: the bed rail, the pillow, the wall, the window, etc. And each time the thing of which I am thinking goes away. An empty space is added to the others, and then everything is there all the same. Sometimes, also, everything is empty. The whole sea that the universe is, is emptied too, and I am afraid. (Eugène Minkowski, Le temps vécu, 1933)
I am interested in the objects we leave behind, the marks and signs of our use; like archeological findings, they reveal so much about us. (Zoe Leonard, visual artist)
«Hallo, wir sind uns noch nicht begegnet.» Auf dem Gang treffe ich eine der Tänzerinnen. «Es tut gut zu wissen, dass du da bist, wie ein kleiner Geist irgendwo in einer Ecke des Studios.» sagt sie. Nein, ich bilde mir das nicht ein, ihre Hände sind wirklich warm, meine sind kalt, das spüre ich. Ein Geist? Ich bin verwirrt. Wie gerne würde ich mich auf meinen Wegen durch diesen Raum selber sehen.
Die Möglichkeit, sich selbst aus der Perspektive eines Aussenstehenden zu beobachten, taucht regelmässig in Träumen, Tagträumen und Erinnerungen auf. Eine spektakulärere Art, den eigenen Körper zu verlassen, ist die berühmte Out-of-Body-Experience (OBE). Bei Ritualen und anderen Techniken, die übersinnliche Wahrnehmungen ermöglichen, ist oft von einer Spaltung die Rede, im Sinne eines doppelten Bewusstseins.
Im Dokumentarfilm Les maîtres fous (1955) wohnte der Anthropologe und Filmemacher Jean Rouch einer Haouka-Zeremonie bei. Zwischen 1920-50 gab es eine populäre Sekte in Westafrika, der hauptsächlich Bergleute, Bauarbeiter und andere städtische Arbeiter angehörten, die ursprünglich vom Land stammten. Sie trafen sich zu einem Ritual auf einem abgelegenen Bauernhof. Im Zustand der Trance wurden sie von Geistern besessen, die etwas mit ihrer Kolonialvergangenheit zu tun hatten, etwa dem Generalgouverneur, dem Ingenieur oder der Arztfrau. Die Verteilung der Rollen wurde vorab vereinbart, es gab Zeugen. Mit rollenden Augen und Schaum vor dem Mund assen sie ausserdem das Fleisch geopferter Hunde und versengten zum Beweis ihrer Besessenheit ihre Körper. Ein verändertes Bewusstsein, eine intensive und scharfsichtige Mischung von Realität, traumatischer Realität, Paranormalität und Theatralität.
At seven-thirty he gave us the mushrooms in crystalline form washed down with water and, at eight, began turning out the lights one by one, while we settled down in easy chairs. Soon no sound was heard except the swish-swish of cars passing in an endless stream along the drive between us and the river: a noise not unlike the sound of waves on the beach.
Since even the half-light had become uncomfortably strong for my eyes, I kept them closed. I knew that the road to paradise often begins under the sea, or from a lake-bottom; so the greenish water now lapping around me came as no surprise. I entered a marble grotto, passing a pile of massive sunken statuary, and found myself in a high-roofed tunnel lit by brilliantly coloured lamps. The sea lay behind.
This was perfect schizofrenia. My corporeal self reclined in a chair, fully conscious, exchanging occasional confidences with friends: but another ‘I’ had entered the tunnel – perhaps the same tunnel through which, four thousand years before, the epic hero Gilgamesh made his approach to the Babylonian Paradise?
I reached for a notebook and wrote: ‹9 p.m. Visions of…› but got no further: things were happening too fast. Besides, the pen felt strange in my hand, and its scratch on paper sounded offensively loud. (Robert Graves, The Poet’s Paradise, 1961)
Mittags in der Kantine fragt jemand vom Team, was ich gerade esse. Kaninchenragout. «Kaninchen?» antwortet sie ganz erstaunt, «das Weisse Kaninchen aus Alices Abenteuer im Wunderland, das isst du.» Welch verquerer Gedanke. Will sie ihm vielleicht durch all die seltsamen Gänge und Kammern in meinem Körper folgen? Oder gar durch all die seltsamen Gänge und Kammern in meinem Kopf? Vielleicht wimmelt es dort schon von Besuchern? Mensch lass mich in Ruhe weiter essen.
In another moment down went Alice after it, never considering how in the world she was to get out again. The rabbit-hole went straight on like a tunnel for some way, and then dipped suddenly down, so suddenly that Alice had not a moment to think about stopping herself before she found herself falling down what seemed to be a very deep well. Either the well was very deep, or she fell very slowly, for she had plenty of time as she went down to look about her, and to wonder what was going to happen next. First she tried to look down and make out what she was coming to, but it was too dark to see anything: then she looked at the sides of the well, and noticed that they were filled with cupboards and book-shelves: here and there she saw maps and pictures hung upon pegs. (Lewis Carroll, Alice’s Adventures in Wonderland, 1865)