Ein 360 Grad Blick ins unsichtbare Zentrum des Balletts
William Forsythes neues Ballett „Woolf Phrase“ in Frankfurt uraufgeführt
Seit 1984 in Artifact der Vorhang mit Aplomb mehrmals mitten in der Szene herunterrauschte, wissen wir, dass es William Forsythe auf das Sehen ankommt. Sein mittlerweile zum Klassiker avanciertes Ballett durchbrach unser Wahrnehmungskontinuum und machte uns unseren gefräßigen Blick auf die Bühne bewusst. Wollten wir doch den schönen Tänzern bei ihren zum Zerreissen gespannten Pas de deux in aller Ruhe zuschauen, ohne dabei immer wieder vor den Kopf gestoßen zu werden. Der Blick auf den Tanz ist seitdem ein vorherrschendes Thema in Forsythes Arbeiten geblieben. Damit verbunden ist stets eine Auseinandersetzung mit der Zentralperspektive, die sich in der Malerei der Renaissance und später auch im Ballett, das die Kompositionsprinzipien der Malerei übernahm, als Darstellungssystem herausgebildet hat.
Grundlegend dafür ist ein statisches, vom Körper losgelöstes Auge, dessen sich verjüngende Sehstrahlen sich einem zentralen Fluchtpunkt treffen. Hierarchisch gegliedert, erstreckt sich die Welt vor dem Auge des Betrachters, eine Welt die von ihm beherrscht wird und die ihm als Spiegel zur Selbstwahrnehmung dient. Denn was am anderen Ende des Sehfeldes auf ihn wartet, ist sein eigener Blick, der selbstreflexiv auf ihn zurückblickt. Nicht umsonst hat man die Entwicklung der Zentralperspektive mit der Entwicklung des Humanismus’ in Zusammenhang gebracht.
Vor diesem Hintergrund leisten Forsythes Arbeiten zweierlei. Produktionsästhetisch betrachtet, ist Forsythes Strategie ein zersetzender Blick auf die Identität des Balletts und seiner Bewegungscodes. Denn das Auge ist, wie schon die Kritik an der Konzeption der Zentralperspektive betont hat, immer in Bewegung. Doch wenn das Auge sich ständig bewegt, wie gelangen wir dann zu statischen, selbst-identischen Figuren? Rezeptionsästhetisch stellt Forsythe die Frage nach der Identität des sehenden Subjekts, dessen Blick das Sehfeld der Bühne durchquert, um im Fluchtpunkt seinem eigenen Auge zu begegnen. Löst sich, wie schon in den Arbeiten von Merce Cunningham, das gestaffelte Sehfeld auf, erkennen wir uns selbst nicht mehr. Dafür öffnet sich ein Feld für Erfahrungen, die den Körper des Zuschauers, und nicht nur dessen Auge, zum Teil der Theatererfahrung macht.
Nachdem das Ballett Frankfurt vor zwei Jahren das Bockenheimer Depot als zusätzliche Spielstätte gewann, hat sich die Thematik des Sehens in Forsythes Stücken noch verstärkt. Sowohl Endless House als auch Kammer/Kammer waren Projekte, die eine bestimmte politics of viewing in den Mittelpunkt stellten. Die beiden Teile von Endless House stellten zwei historische Modi des Sehens idealtypisch vor. War der erste Teil in der Frankfurter Oper ganz dem Modell der Zentralperspektive verpflichtet, löste der zweite Teil diese völlig auf. Im Opernhaus ermöglichte Forsythe jedem einen nahezu gleichen Blick auf die Bühne, doch was das Auge des Betrachters sah, war die Kulissenmaschinerie des technischen Apparates Theater. Lampions und Prospekte hoben und senkten sich meditativ aus dem Schnürboden. Der Zuschauer sieht zwar alles, doch das Alles-Sehen und Alles-Wissen ist spätestens seit Ödipus gleichbedeutend mit Nichts-Sehen und Blindsein.
Der zweite Teil löste die starre hierarchisch gegliederte Sehordnung des ersten Teils komplett auf. Nach einem Ortswechsel, der die Zuschauer mit der U-Bahn in ein altes Straßenbahndepot brachte, fand sich der Betrachter inmitten eines offenen Feldes wieder. In der ganzen, über dreißig Meter ausmachenden Länge des Depots fanden, in drei große Gruppen und Zentren unterteilt, gleichzeitig tänzerische Aktionen statt, um die der Betrachter nicht bloß herumlaufen konnte. Nachdem man die Schuhe ausgezogen hatte, durfte man auch über den Tanzboden durch die Formationen hindurchlaufen und auf Stühlen oder dem Boden Platz nehmen. Tänzer bereiteten sich auf den Bänken an den Rändern zwischen den Zuschauern vor. Die Bar blieb für jedermann geöffnet. Durch fahrbare Wände wurden die Anordnung des Raumes und damit die Sichtlinien auf das Geschehen immer wieder verändert. Unmöglich, alles zu sehen. Unmöglich aber auch, von einem Platz aus einen Ausschnitt zu verfolgen. Immer wieder wurde die Sicht versperrt, wurde man zu Positionswechseln im Feld angehalten, ohne ihnen jedoch nachkommen zu müssen.
Begreift man, wie es unter andrem die amerikanische Performancetheoretikerin Rebecca Schneider getan hat, die Zentralperspektive als historisch-ideologisches Konstrukt, ist ein Eingriff in ihr System immer auch ein Eingriff in die symbolische Ordnung unserer Gesellschaft. Eigenverantwortliches Sehen und Handeln in einem Feld aus individuellen Differenzen tritt dabei an die Stelle der Repräsentation einer vorgegeben Ordnung, die auf der Opposition von Vorder- und Hintergrund, Mächtigem und Bemächtigtem basiert. Kammer/Kammer arbeitete mit dem Kontrast zwischen der symbolischen Handlung im Bühnenraum und den imaginären Bildern, die eine Live-Kamera aus diesem Material herausfilterte. Blieb die tatsächliche Aktion der Tänzer weitgehend hinter verschiebbaren Kulissenwänden verdeckt, schuf die Kamera Einblicke in Szenen, die so gar nicht existierten. War der Tanz ruppig und ein bisschen schäbig, waren die Bilder streng komponiert, harmonisch und elegant. Kammer/Kammer kann als Gegenstück zu Endless House verstanden werden. Waren die Zuschauer in Endless House Teil der ständig sich wandelnden Bilder, blieben sie in Kammer/Kammer abgeschirmt vom Geschehenen vor den Videoleinwänden sitzen. Konnten sie sich in Endless House ihre Perspektive in einem enthierarchisierten Feld der Möglichkeiten eigenverantwortlich und mit Rücksicht auf die anderen aussuchen, mussten sie in Kammer/Kammer dem vorgegebenen Blick der Kamera folgen. Im Wettstreit zwischen Livegeschehen und imaginärem Bild blieben die Bilder Sieger und die Zuschauer die Getäuschten.
Auch in William Forsythes jüngstem abendfüllendem Ballett Woolf Phrase, das zur Spielzeiteröffnung im Bockenheimer Depot uraufgeführt wurde, leistet der Blick strukturierende Arbeit. Man könnte Forsythes Verfahren dabei als „Paraphrasieren“ bezeichnen, das in der Aufführung auf zwei Ebenen stattfindet. Zum einen umschreiben die Tänzer des Ballett Frankfurt Bewegungsphrasen, die sie durch Beobachtung aufnehmen, und legen neue, eigenen Bewegungen um sie herum. Zum anderen umschreiben die verwendeten Texte Originalzitate aus Virginia Woolfs 1925 veröffentlichtem Roman Mrs Dalloway, greifen daraus Motive und Stimmungen auf, und geben sie in eigener Sprache wieder. Mit dem Blick verbunden ist das Thema der Zeit, des erfüllten Moments, der sowohl Woolfs Text als auch Forsythes Ballett motiviert.
Der erste Teil des Stücks besteht aus dem Duo Woolf Phrase, das im vergangenen März als Einakter im Frankfurter Opernhaus uraufgeführt wurde. Es dient als Keimzelle für den neuen, knapp einstündigen zweiten Teil des Abends, der Motive und Strukturen daraus aufgreift, um sie verändernd fortzuschreiben. Die Tänzerin Prue Lang tritt von hinten links vor ein Mikrophon, ihr Kollege Richard Siegal von rechts vorne. Eine Möwe krächzt, während er Impressionen von einem Sommertag am Strand sammelt. Aus dem Körperzentrum heraus abknickend, dreht und windet sich Lang und führt ihre Bewegungen dabei an die Peripherie des Körpers wie im klassischen Ballett. Siegal wiederum kreist um sie, fällt zu Boden, knurrt und zupft an ihrem Bein wie ein verspielter Hund. „All of a sudden“ und „and then“ sind Worte, die immer wieder zu hören sind. Es sind Worte, die auf den Moment verweisen und die Plötzlichkeit von Ereignissen oder Gefühlszuständen hervorheben. „Der gleich Moment in hundert Jahren“, heißt es da einmal.
Siegal und Lang, zur Zeit zwei der prononciertesten und stärksten Tänzer der Kompanie, zoomen und zappen sich souverän durch Raum und Zeit, nähern sich einander an und werden dann durch ein heftiges „Pow“, das sie immer wieder ausstoßen, voneinander weggetrieben. Dabei sprengen sie Blicke und Perspektiven auf, zerfällt ihr Duo in viele kleine Momentaufnahmen, ohne den inneren Zusammenhalt zu verlieren.
Im zweiten, neuen Teil des Abends summt ein Bienenschwarm fleißig durch den Raum. Ab und zu dringt auch ein bellender Hund an unser Ohr. Musikbruchstücke werden rückwärts vom Band eingespielt, während David Morrow am Klavier für wärmere, fast lyrische Töne sorgt. Der Tänzer Alessio Silvestrin bedient ein Glockenspiel, das zunächst nur wie Big Ben in Virginia Woolfs Mrs Dalloway die Stunde schlägt, bevor es zu einem wilden Crescendo anschwillt (musikalische Motive von Ekkehard Ehlers und Thom Willems). Dana Caspersen erzählt von einen perfekten Morgen, der geradewegs dem Anfang von Woolfs Roman entsprungen sein könnte. Erinnert Caspersen Figur an Woolfs Heldin Clarissa Dalloway, greift David Dawson Woolfs zweiten Helden Septimus Warren Smith auf, der im Roman aufgrund seines Kriegstraumas Selbstmord begeht. Explosiongeräusche begleiten ihn, zerstückeln seine Sprache und sein Bewusstsein. An der Rampe befindet sich ein erhöhtes Podest, das als eine Art Brückenkopf zum Zuschauerraum fungiert. Ganz nah ans Publikum herangerückt, entspinnt sich darauf eine Reihe von Soli, die beinahe beiläufig getanzt werden, während sich im Hintergrund, ganz weit in der Tiefe des Raums, andere durch einen Spalt auf die Bühne zwängen. William Forsythe hat wiederholt darauf hingewiesen, dass man Bewegungen nirgendwohin mitnehmen kann. Sie sind ihrem Wesen nach abwesend und unsichtbar. Im klassischen Ballett existieren sie nur als Idee, als Ideal, das der Tänzer oder die Tänzerin in der möglichst perfekten Erfüllung der Figuren anstreben kann. Er oder sie vermag jedoch in der Ausführung der Bewegung lediglich durch die Figur hindurchzugehen, um sie für kurze Zeit aufleben zu lassen, bevor sie wieder dem Vergessen anheim fällt. Die Verinnerlichung des Sichtbaren, um das Flüchtige, dem Vergehen der Zeit unterworfene als Unsichtbares in ihren eigenen Körper hineinzunehmen, findet in Woolf Phrase über den Blick statt. Auf einfachen schwarzen Quadern in der Bühnenmitte sitzend, beobachten die Tänzer in wechselnden Positionen die Bewegungssequenzen ihrer Kollegen, die auf dem „Woolf Phrase“ des ersten Teils basieren. Nach und nach stehen sie auf und steigen in die Bewegung mit ein, umtanzen diese Figur, lassen sie durch ihren eigenen Körper hindurchgehen, der sich um sie legt wie eine Hülle, und schaffen es so, die Phrase, die nie mit sich identisch ist, immer wieder neu und anders entstehen zu lassen. Das sieht bei einigen stärker nach klassischem Ballett aus, bei anderen eher nach kräftigem Modern Dance, eben so, wie die Kompanie zur Zeit besetzt ist.
Dabei ist Woolf Phrase mit seiner ruhigen Reihung der Soli und Duette ein impressionistischer und, von einer lauten, von Richard Siegals elektrischer Gitarre und Stephen Galloways Rap getragenen Tutti-Szene in der Mitte einmal abgehen, auch gleichförmiger Abend. Es ist fast so, als wolle er sich ganz leise aus unserem Gesichtsfeld stehlen, um selbst unsichtbar zu werden. Doch gerade in seiner nicht-auftrumpfenden zurückhalten Art liegt seine Stärke. In Formation schreitet die Kompanie am Schluss vor der Bühnenrückwand vor und zurück, das Explodieren von Schüssen oder Granaten imitierend, während David Dawson seine Tränen angesichts der Zerstörung beschreibt. Damit endet der Abend abrupt, als wolle er in der Tat den Moment festhalten.
Von dem angekündigten Titel Woolf Phrase and Bees of the Invisible ist bei der Premiere nur noch knapp Woolf Phrase übrig geblieben. Doch wie immer bei Forsythe ist das, was er weglässt, in seinen Choreographien nach wie vor gespenstisch präsent und als Erinnerung signifikant. Neben Virginia Woolf ruft Forsythes ursprünglicher Titel nämlich auch Rainer Maria Rilkes Betrachtungen über die Vergänglichkeit der Welt auf. Wie die Bienen sammle der Mensch das Vergängliche, um die Welt als unsichtbare in sich noch einmal zu errichten. In die Vibrationen und Bewegungen der eigenen Natur aufgenommen, vermag sie in ihrer Essenz zu überdauern. Eine adäquatere Beschreibung von Forsythes eigenem choreographischen Verfahren und seiner Bewegungsfindung lässt sich kaum denken. Doch was man in Woolf Phrase sieht, ist keine Bewegungsessenz, sondern das permanente Umschreiben von Bewegungen um das leere, unsichtbare Zentrum des Balletts und dessen Blick auf Zeit, Bewegung und Körper.