Jenseits der Theaterkonvention
Singt das Leben mit seinen Worten: Jerome Bel zeigt "The Show Must Go On" im Mousonturm
Lange Zeit geschieht nichts im Theatersaal des Frankfurter Mousonturms. Die Bühne bleibt dunkel und leer. Ein Diskjockey sitzt vor der Rampe an einem CD-Spieler und einem Lichtpult und legt eine CD ein. Hoffnungsvoll erklingt Tonight aus Leonhard Bernsteins West Side Story aus den Lautsprechern und verspricht uns einen schönen Abend. Ist das Lied zu Ende, wird die CD gewechselt. Let the Sunshine in ist zu hören. Und siehe da, es wird tatsächlich Licht auf der Bühne. Schließlich kommt zu Come Together von den Beatles ein Häufchen Tänzer auf die Bühne, stellt sich locker im Halbkreis auf und schaut ins Publikum, bevor es zu David Bowies Let’s Dance zu tanzen beginnt.
So geht es eineinhalb Stunden konsequent weiter. 19 Songs, die mit unserer persönlichen wie kollektiven Erinnerung spielen, die durch die Lieder, die jeder mitsingen kann, ausgelöst werden. 19 individuelle Typen in Straßenkleidung, die wir uns in Ruhe anschauen können. 19 starke Bilder, die denkbar einfach sind und doch eine ganze Geschichte über den Umgang mit Körpern auf dem Theater in sich tragen.
Der französische Choreograph Jérôme Bel zeigt sein jüngstes Stück The Show Must Go On. Das Stück, das mit dem Ensemble das Deutschen Schauspielhauses in Hamburg im September Premiere hatte, seit Januar aber in einer zweiten Version mit Bels eigener Kompanie durch Europa tourt, ist eigentlich für ein richtiges Theater mit Vorhang und Plüschsessel gedacht. Das haben die wenigsten Theater zu bieten. Aber auch auf der relativ kleinen Bühne im Mousonturm trägt das wunderbare Stück, das auch eine biblische Schöpfungsgeschichte ist, die im Theater die Welt noch einmal erschafft. Auch bei Bel war am Anfang das Wort, bevor es Licht wird, die Tänzer erscheinen und zu tanzen beginnen. Dabei führen sie jedesmal genau das aus, was die jeweiligen Titelzeilen der Popsongs sagen. Ihre Körper sind die Buchstaben und Worte, die die Bühne beschreiben wie ein Blatt Papier. Bel dreht das alte Verhältnis von Körper und Sprache einfach um. Nicht mehr Körper sein und dann Worte haben, sondern Worte sein und dadurch erst einen Körper haben lautet bei ihm die Devise.
Zwischen den einzelnen Songs entstehen jedesmal kleine Geschichten und ironische Spiegelungen. Kaum ist die Titanic gesunken, hört man den Chor der Tänzer fröhlich We all live in a yellow submarine singen. Auf Fame, I want to live forever folgt prompt die Sterbeszene zu „Killing me softly with this song, bevor die Tänzer zu The show must go on wieder Auferstehen. Für Jérôme Bel liegt die Erlösung im Theater. Wie kein anderer glaubt er an die Bretter, die die Welt bedeuten. Seine ureigene künstlerische Leistung liegt darin, daß er ihre Konventionen durch eine Art virtuoses Nichtstun aushöhlt, bis das Skelett des Theaters bloßliegt. Und das liegt bei „The Show Must go on“ zweifelsohne in der Beziehung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Im Mousonturm macht sich eine entspannte Atmosphäre breit. Mit dem Nachbar plaudern, mitsingen, klatschen oder tanzen: Jeder im Zuschauerraum nimmt und gibt das, was er oder sie für richtig hält.
Nach einer Art Pause, in der Edith Piaf La vie en rose zum besten gibt und dabei das Licht über den Köpfen der Zuschauer rosa zu strahlen beginnt, verlagert Bel die Aufführung mehr und mehr in die Köpfe der Zuschauer. Zu John Lennons Imagine bleibt das Licht gleich ganz aus, damit wir uns das, was Lennon an Utopie besingt, auch wirklich vorstellen können. Selten hat man auf der Bühne, wo Heerscharen von Schauspielern nichts lieber tun, als echt zu spielen, Menschen untheatraler und damit natürlicher gesehen als hier. Jérôme Bel hält uns den Spiegel vor, oder, wie es im Text von Killing me Softly heißt, sie singen unser Leben mit ihren Worten. Hinter den Spiegel zu blicken oder ihn und damit das Theater abzuschaffen, liegt ihm nicht. Denn er weiß, das dann die Reflexion ermöglichende Distanz und damit die Show tatsächlich zu Ende wäre.