Das macht die Stockholmer Luft
Der belgische Regisseur Michael Laub zeigt die Uraufführung von „Total Masala Slammer/Heartbreak No 5“ am Berliner Hebbel-Theater
Als der belgische Regisseur Michael Laub 1975 nach Stockholm kam, war er verliebt in das Licht und die düstere Atmosphäre der Filme von Ingmar Bergmann. Für das Moderne Museum produzierte er in den folgenden Jahren zahlreiche Stücke, die an der Grenze zwischen Minimal Dance, Performance- und Body Art angesiedelt waren und die der schönen geschlossenen Welt der Repräsentation mit Hilfe des Zufalls Risse zufügen wollten. Mit seiner Gruppe Remote Control, die das für Laubs Arbeit typische Zappen durch die verschiedensten Genres schon im Titel trägt, arbeitet er seit 1981 in ganz Europa an einer genuin intermedialen Theaterform, die den zeitgenössischen Wahrnehmungsbedingungen Rechnung trägt. Rough aus dem Jahr 1994 war eine Backstage-Comedy über das Machen eines Musicals, das nie zustande kam. Ein Jahr später entführte er die Zuschauer in Daniel and the Dancers in die aberwitzige Welt eines billigen Science-Fiction B-Movies. In Planet Lulu, frei nach Wedekind, traten 1997 gleich fünf Lulus ans Mikrophon, die alle aussahen wie Kopien von Louise Brooks aus Peter Pabsts Verfilmung des Stoffs. Die Suche nach dem Echten im Falschen, nach Individualität im Zeitalter technisch reproduzierbarer und medial verbreiteter Zeichen und Versatzstücke hat ihn bis heute ebensowenig losgelassen wie seine Faszination für den Film.
Auch Total Masala Slammer/Heartbreak No 5, sein jüngstes Werk, das zur Eröffnung des Internationalen Tanzfests Tanz im August im Berliner Hebbel-Theater uraufgeführt wurde, ist der Versuch, die Strukturprinzipien eines theaterfremden Genres auf der Bühne umzusetzen. Angelockt von den übergroßen Gefühlen, den Farben und dem suggestiven Kathak-Tanz aus Nordindien, der das Geschehen im Film wie auf der Bühne rhythmisch strukturiert, stellt Total Masala Slammer/Heartbreak No 5 den gelungenen Versuch dar, einen Bollywood-Film für die Bühne zu inszenieren. Das Stück ist dabei jenem Cocktail, dem Alabama Slammer, nicht unähnlich, von dem der Tänzer Dennis O’Connor, der auch für die einfache aber wirkungsvolle Choreographie des Abends verantwortlich zeichnet, in der ersten Hälfte des Abends erzählt. Whiskey, Southern Comfort und Gin werden mit einem Schuß Limonensaft vermischt und kräftig gerührt. In Laubs Stück ist alles drin, was auf den ersten Blick unmöglich zusammengehört. Das Resultat ist ebenso umwerfend wie rührend.
Zu Larry Steinbacheks atmosphärischen Synthesizerklängen betreten zwei Tänzer und eine Tänzerin zu Beginn die Bühne, lassen lasziv ihre Hüften kreisen, drehen Arme und Beine, kippen nach vorne aus der Balance, nur um sich gleich wieder zu fangen. Nach ein paar Minuten brechen sie einfach ab und verteilen sich auf eine Reihe von rotgepolsterten Stühlen, die, aufgelockert von zwei niedrigen indischen Tischen für die Kathak-Tänzerinnen, die Bühne säumen. Eine Leinwand erhebt sich in der rechten hinteren Bühnenhälfte, auf der indische Schauspieler hochdramatische Szenen zum besten geben und Tanzlehrer die korrekte Körperhaltung beim Ausdruck von Gefühlen erläutern. Greg Zuccolo greift zu einer englischen Ausgabe von Goethes Die Leiden des jungen Werther und verkündet, daß man heute Abend daraus ein bißchen lesen und singen wird.
Während er liest, fängt seine Kollegin Lara Benusius tatsächlich an, den Text zu singen, den Astrid Endruweit zudem noch ins Deutsche übersetzt. Endruweit irrlichtert in ihrer strengen Schuluniform durch die Szenen als eine Art Übersetzerin und Missionarin, um sich, wie sie sagt, wie Ingrid Bergmann in Mord im Orientexpress, um die „braunen“ Kinder zu kümmern. Stephanie Weyman läßt ihre Lotte klingen wie eine Amerikanerin von heute, die ihrer besten Freundin von ihrem Date mit Werther erzählt.
Laub legt dem Stück gleich zwei dramatische Modelle zugrunde, denen er auf der Bühne ihren eigenen konkreten Orte zuweist. Werthers Herzschmerz spiegelt sich in der Liebesgeschichte zwischen Subhankar (Vinay Peshave) und Nandhita (Anuskaa Dantur), die sich wie eine indische Seifenoper durch den Abend zieht. Kalt, herrisch und mit steinerner Miene weist Dantur Peshave immer wieder ab, weil sie Filmstar werden will und keine Zeit für einen Verlierer wie ihn hat. Doch Subhankar folgt ihr unterwürfig wie ein Hündchen, bis Nandhita vom betrügerischen Mr. Shah, der ihr eine Filmrolle verspricht, als Prostituierte verkauft wird.
Das Stück gibt sich der Trivialität der Kulturindustrie und ihrer Produkte hemmungslos hin und ist doch alles andere als trivial. Stets arbeitet Laub auf mehreren Ebenen gleichzeitig, die er kunstvoll verzahnt, ohne daß der Zuschauer die Bezüge sofort erkennen könnte. Die Fäden laufen im ersten Teil zwar noch allzu locker nebeneinander her, doch Laub schürzt den dramaturgischen Knoten im zweiten Teil kräftig. Jeder Auftritt, der oft genug an der Rampe endet, wird demonstrativ als Theaterauftritt ausgestellt. Souverän zitiert Laub Genreklischees und läßt die Tänzer-Darsteller mühelos in ihre Rollen ein- und wieder aus ihnen aussteigen. Durch die permanente Rahmenverschiebung spiegeln und brechen sich die Miniszenen ständig ineinander und verweigern so konsequent jeglichen Anflug von Illusion. In den Zwischenräumen haben Aufführung und Darsteller Luft zum Atmen. Führte Laubs Methode des Collagierens früher oft zu einer gewissen Glätte, gelingt ihm in Total Masala Slammer/Heartbreak No 5 ein facettenreiches Changieren zwischen Figur und Person, bei dem die hervorragenden Tänzer-Darsteller ganz im jeweiligen Moment der Situation aufgehen.
Der ganz und gar lustvolle Abend gewinnt seine Komik nicht zuletzt aus den permanenten Übersetzungen von Texten, Sprachen, Akzenten, Gefühlen und letztlich auch von kulturellen Traditionen, die hier zusammentreffen. Laub hat ein sehr gutes Ohr für Töne, läßt Dennis O’Connor in breitem Südstaatenakzent erzählen, Stephanie Weyman mit einem Walkman auf dem Kopf Englisch mit indischen Tonfall sprechen, bevor sie vom rhythmischen Silbengesang der drei Kathak-Tänzerinnen Anar Shah, Shrutee Butle und Richa Chinoy abgelöst wird. Krümmt sich der Darsteller des Subhankar vor Schmerz, weil ihn Nandhita wieder einmal abgewiesen hat, wird er von einem Tänzer zur Seite geschoben, der Schmerz und Trauer mit den streng codierten Handbewegungen und Körperhaltungen des Kathak darstellt. Das alles ist rasend komisch und ernst zugleich.
Denn der Reigen der gebrochenen Herzen steigert sich am Schluß bis ins Melodram. Je näher die Katastrophe rückt, desto schriller wird der Gesang von Lotte. Greg Zuccolo jagt sich eine Kugel duch den Kopf. Vinay Peshave und Anuskaa Dantur postieren sich als Subhankar und Nandhita auf dem Podest neben der Leinwand und wiederholen ihren ersten Dialog, während hinter ihnen die edlen Vorhänge, die die Bühnenrückwand bislang abgedeckt hatten, nacheinander herunterfallen: eine Szene der Hoffnungslosigkeit, die vor der nacktem Brandmauer, die jeden Ausblick versperrt, endet. Doch Total Masala Slammer/Heartbreak No 5 ist alles andre als hoffnungslos. Michael Laub ist ein Tanztheaterabend gelungen, der von der gegenseitigen Neugier und dem Respekt vor der Fremdheit des Anderen geprägt ist. Die Utopie des Abends liegt nicht im tragischen Inhalt, sondern in seiner Form. Den sichtlichen Spaß, den die Tänzer, Darsteller und der Tabla-Spieler Nakul Mishra miteinander hatten, übertrug sich auch aufs Publikum und entlud sich am Ende in stürmischem Beifall.