Der gleiche Moment in hundert Jahren
Uraufführung im Frankfurter Bockenheimer Depot: William Forsythes neues Stück "Woolf Phrase"
Neben der Musik ist der Tanz, jahrhundertlang eng mit dieser verbunden, die Zeitkunst par excellence. Ohne materielles Substrat erhält die dem Vergehen unterworfene Bewegung nur im Augenblick ihrer Verkörperung durch Tänzer und Tänzerinnen eine sichtbare Form. Doch nur wenige Choreographen stellen sich bewußt diesem grundlegenden Problem der Zeit, ihrer Flüchtigkeit und den damit verbundenen Implikationen für die tänzerische Bewegung. William Forsythe hat wiederholt darauf hingewiesen, daß man Bewegungen nirgendwohin mitnehmen kann. Sie sind ihrem Wesen nach abwesend und unsichtbar. Im klassischen Ballett existieren sie nur als Idee, als Ideal, das der Tänzer oder die Tänzerin in der möglichst perfekten Erfüllung der Figuren anstreben kann. Er oder sie vermag jedoch in der Ausführung der Bewegung lediglich durch die Figur hindurchzugehen, um sie für kurze Zeit aufleben zu lassen, bevor sie wieder dem Vergessen anheim fällt.Es ist diese Idee des Hindurchgehens durch Bewegungssequenzen, die auch Forsythes neuer abendfüllender Choreographie Woolf Phrase zugrunde liegt. Von dem angekündigten Titel Woolf Phrase and Bees of the Invisible ist bei der Premiere im Frankfurter Bockenheimer Depot nur noch knapp Woolf Phrase übrig geblieben. Doch wie immer bei Forsythe ist das, was er wegläßt, in seinen Choreographien nach wie vor gespenstisch präsent und als Erinnerung signifikant. Neben Virginia Woolf, deren Roman Mrs. Dalloway, eine der zentralen modernen Fiktionen über das Wirken der Zeit, als Folie für das Textmaterial des Stücks dient, ruft Forsythes ursprünglicher Titel Rainer Maria Rilkes Betrachtungen über die Vergänglichkeit der Welt auf. Wie die Bienen sammle der Mensch das Vergängliche auf, um die Welt als unsichtbare in sich noch einmal zu errichten. In die Vibrationen und Bewegungen der eigenen Natur aufgenommen, vermag sie in ihrer Essenz zu überdauern. Eine adäquatere Beschreibung von Forsythes eigenem choreographischen Verfahren und seiner Bewegungsfindung läßt sich kaum denken. Doch was man in Woolf Phrase sieht, ist keine Bewegungsessenz, sondern das permanente Umschreiben von Bewegungen um ein leeres, unsichtbares Zentrum.
Der erste Teil des Stücks besteht aus dem Duo Woolf Phrase, das im vergangenen März als Einakter im Frankfurter Opernhaus uraufgeführt wurde. Es dient als Keimzelle für den neuen, knapp einstündigen zweiten Teil des Abends, der Motive und Strukturen daraus aufgreift, um sie verändernd fortzuschreiben. Die Tänzerin Prue Lang tritt von hinten links vor ein Mikrophon, ihr Kollege Richard Siegal von rechts vorne. Eine Möwe krächzt, während er Impressionen von einem Sommertag am Strand sammelt. Aus dem Körperzentrum heraus abknickend, dreht und windet sich Lang und führt ihre Bewegungen dabei an die Peripherie des Körpers wie im klassischen Ballett. Siegal wiederum kreist um sie, fällt zu Boden, knurrt und zupft an ihrem Bein wie ein verspielter Hund. Wörtliche Zitate aus Woolfs „Mrs.Dalloway“ werden paraphrasierend aufgegriffen. Es sind Worte, die auf den Moment verweisen und die Plötzlichkeit von Ereignissen oder Gefühlszuständen hervorheben. „Der gleich Moment in hundert Jahren“, heißt es da einmal. Siegal und Lang zoomen und zappen sich souverän durch Raum und Zeit, nähern sich einander an und werden dann durch ein heftiges „Pow“, das Siegal immer wieder ausstößt, voneinander weggetrieben. Dabei sprengen sie Blicke und Perspektiven auf, zerfällt ihr Duo in viele kleine Momentaufnahmen, ohne den inneren Zusammenhalt zu verlieren.
Trotzdem die Bienen aus dem Titel verschwunden sind, summen sie im zweiten, neuen Teil des Abends fleißig durch den Raum. Ab und zu dringt auch ein bellender Hund an unser Ohr. Musikbruchstücke werden rückwärts vom Band eingespielt, während David Morrow am Klavier für wärmere, fast lyrische Töne sorgt. Der Tänzer Alessio Silvestrin bedient ein Glockenspiel, das zunächst nur wie Big Ben in Virginia Woolfs „Mrs Dalloway“ die Stunde schlägt, bevor es zu einem wilden Crescendo anschwillt (musikalische Motive von Ekkehard Ehlers und Thom Willems). Dana Caspersen erzählt von einen perfekten Morgen, der geradewegs dem Anfang von Woolfs Roman entsprungen sein könnte, und Stephen Galloway schreitet singend durch den Raum. An der Rampe befindet sich ein erhöhtes Podest, das als eine Art Brückenkopf zum Zuschauerraum fungiert. Ganz nah ans Publikum herangerückt, entspinnt sich darauf eine Reihe von Soli, die beinahe beiläufig getanzt werden, während sich im Hintergrund, ganz weit in der Tiefe des Raums, andere durch einen Spalt auf die Bühne zwängen. Die Verinnerlichung des Sichtbaren, um das Flüchtige, dem Vergehen der Zeit unterworfene als Unsichtbares in ihren eigenen Körper hineinzunehmen, findet hier über den Blick statt. Auf einfachen schwarzen Quadern in der Bühnenmitte sitzend, beobachten die Tänzer in wechselnden Positionen die Bewegungssequenzen ihrer Kollegen, die auf dem Woolf Phrase des ersten Teils basieren. Nach und nach stehen sie auf und steigen in die Bewegung mit ein. Wie die Sprecher (neben Caspersen vor allem David Dawson) die Sprache von Virginia Woolf assoziativ umschreiben, umtanzen die Tänzer diese Figur, lassen sie durch ihren eigenen Körper hindurchgehen, der sich um sie legt wie eine Hülle, und lassen so die Phrase, die nie mit sich identisch ist, immer wieder neu und anders entstehen. Das sieht bei einigen stärker nach klassischem Ballett aus, bei anderen eher nach kräftigem Modern Dance, eben so, wie die Kompanie zur Zeit bestückt ist.
In dieser Arbeit am Blick auf die Bewegung knüpft Woolf Phrase an die beiden vorangegangenen Abendfüller Forsythes an. Stellte Forsythe in Endless House zwei unterschiedliche Blick- und Raumkonzepte gegenüber, in denen sich die Zuschauer jedesmal neu positionieren mußten, verstellten in Kammer/Kammer die schönen Bilder einer Livekamera den Blick auf die Körper, was zu ihrer fast völligen Abschirmung führte. In Woolf Phrase nun ist es der Blick der Tänzer selbst, der Bewegungen erzeugt. Dabei ist Woolf Phrase mit seiner ruhigen Reihung der Soli und Duette ein impressionistischer und, von einer chaotischen Tutti-Szene in der Mitte einmal abgehen, auch gleichförmigerer Abend. Es ist fast so, als wolle er sich ganz leise aus unserem Gesichtsfeld stehlen, um selbst unsichtbar zu werden. Doch gerade in seiner nicht-auftrumpfenden zurückhalten Art liegt seine Stärke.