Für eine Schrift der Körper
Das ist eine Einladung, deine Aufmerksamkeit zu deinen Knochen und deinem Skelett wandern zu lassen. Das ist ganz einfach. Es sind die Teile, die sich fest anfühlen; – das, womit sich dein Körper auf Unterlagen verschiedenster Art abstützt oder anlehnt: Im Sitzen oder Stehen sind es meist Teile der Fersen und Zehen. Die Sitzknochen, also die harten Knubbeln in deinen Pobacken, auf denen oder rund um die du sitzt. Meist liegen Teile der Unterarmknochen oder der Ellbogen am Tisch auf. Und wenn du deinen Kopf abstützt, dann berührst du mit deinem Handballen wahrscheinlich das Kinn oder die Wangengegend.
Es gibt also einige einfache Ausgangspunkte, um mit den eigenen Knochen in Kontakt zukommen. Nimm das, was sich für dich am stärksten und einfachsten anfühlt. Spüre kurz nach, was von diesem Körperteil wie aufliegt. Tu das, ohne dich »zurechtzusetzen«. Einfach um einmal wahrzunehmen, was und wie es jetzt ist. Wenn du mit deiner Aufmerksamkeit ca. drei Atemzüge bei dieser Kontaktfläche bleibst, wird sich deine Wahrnehmung vielleicht wie von selbst ausbreiten. Andere, mehr oder weniger vage Vorstellungen des »dichtesten Organs des menschlichen Körpers«, deines Knochenapparat, werden dir bewusst werden. Wahrscheinlich ändern sich auch deine Gedanken. Es könnte auch sein, dass sich z. B. die Schultern und der Nacken etwas entspannen –Teile, die wir oft anspannen und meist nach oben ziehen, als müssten wir damit etwas halten. Dabei sind im menschlichen Körper die Muskeln für die Bewegung zuständig, die Knochen haben prinzipielle und wesentliche Stützfunktionen.
Vielleicht willst du jetzt deine Position verändern.
So als würdest du sehr verlangsamt, vielleicht auch etwas träge oder fahrig – tanzen.
Tanzen! Diesem poetischen, unfunktionalen Verschieben von Körpern in Raum und Zeit. Dem Ruckeln, Wippen und Wiegen. Dem Schaukeln und Zucken nach vorne, hinten, oben und unten. Du kannst es leicht selbst in unterschiedlichen Lagen ausführen. Auch sitzend am Schreibtisch oder überhaupt an jedem Tisch. Also wenn du mutig oder alleine bist, wollen sich du und dein Oberkörper vielleicht einem kleineren oder größeren Schwingen hingeben ...? – So wie ich das gerade tue, damit ich weiß, wovon ich schreibe. Und da merke ich: Genau! Auch Kreise sind möglich. (Hier ist es vielleicht interessant zu erwähnen, dass jede Bewegung, die wir ausüben, einen Kreis oder zumindest einen Abschnitt eines Kreises beschreibt, denn so sind unsere Gelenke gebaut. Keine Bewegung vollzieht sich auf einer geraden Linie – weil alle unsere Knochen leicht gebogen sind. Auch die Kreise und Kurven unserer Bewegungen vollziehen sich nicht auf einem geometrischen Kreis, wie er meist abgebildet wird. Es sind eher unregelmäßige, holprige Kreise, die wir ausführen. Ähnlich der Form unseres Planeten, die ja mehr einer Kartoffel gleicht und nicht dieser regelmäßigen runden Kugel, die immer abgebildet wird.)
Du kannst das selbst untersuchen, indem du z.B. deinen Kopf von einer Seite zur anderen drehst. Allerdings deutet hier die Sprache ja schon den Kreis an. Aber auch wenn du einfach deine Hand ausstreckst, um z. B. eine andere zu schütteln oder in einem High Five! Handflächen aufeinander klatschen zu lassen, wird die Bewegungsbahn eine gebogene sein. Würden unsere Bewegungen Linien und Streifen in der Luft hinterlassen, es wären Kurven und Wellen. Wie unsere Wirbelsäule, die in einer doppelten S-Form nach oben oder nach unten schwingt.
Du kannst auch mit dem unteren Teil deines Körper kleine Tänzchen machen und mit den Füßen scharren, unauffällig aufstampfen, die Fersen anheben und bis zu den Zehenspitzen abrollen oder die Zehen einrollen und wieder ausstrecken. Auch die Knie können nach innen und außen schwingen, um dann eine andere Position als die dir übliche einzunehmen. Also entweder sinken die Knie nach außen oder du führst sie nach innen und legst sie aneinander. Letzteres ist übrigens entspannend für die Oberschenkelmuskulatur, das Becken und den unteren Rücken.
Aber wer weiß, wo du diesen Text liest. Vielleicht bist du ja im Schulter- und Nackenbereich so verspannt, dass sich jeder Gedanke, der sich zur Bewegung formulieren möchte, blitzschnell wieder auflöst. Oder aber du willst einfach in Ruhe weiterlesen und Lesen und Bewegung sind etwas, was du dir nicht gleichzeitig vorstellen kannst. Wenn du aber trotz allem probieren möchtest, mit allerkleinsten Bewegungen den Linien und Kurven deiner Knochen nachzuspüren, z. B. mit einem leichten Schwingen entlang dem unteren Halbrund deines Hinterkopfs, einem winzigen Kreisen entlang der Kugel deines Oberarms im Schultergelenk oder einem kleinen Auf- und Abwippen entlang deiner Wirbelsäule – spürst du dann, wie sich die Grenze zwischen Gedanke und Aktion auflöst? Spürst du nach einiger Zeit all die anderen Bewegungen, die dein Körper ständig ausführt? Z.B. die Bewegung deines Atems, das Klopfen deines Herzens, das Vibrieren deiner Haut und das ganze Feld von Spannung und Entspannung, von Sinken und Aufsteigen, mit dem dein Körper die ganze Zeit beschäftigt ist.
Unsere Bewegungen organisieren sich um unseren Bewegungsapparat, wie das knöcherne Skelett auch genannt wird. Knochen sind eine faszinierende Angelegenheit. Sie sind die mineralischen Anteile unseres Körpers, die für uns lebenswichtig sind, unser Körper aber nicht selbstständig herstellen kann. Es sind die sogenannten anorganischen Teile unseres Daseins, die oft als totes Gewebe bezeichnet werden. Aber Knochen sind keineswegs tot. Sie sind mit Blut durchströmt und helfen, rote Blutkörperchen zu erzeugen; sie bestehen aus stützenden Mikroräumen, die elastisch sind und unsere ganze Mobilität stabilisieren.
Wir finden diese kalziumhaltigen Substanzen unseres Körpers in unserer Umwelt, in den Steinen und Gebirgen wieder. Wir finden sie am Meeresgrund, in Muscheln und Schalentieren. Es sind Anteile unserer Existenz, die uns Menschen mit einer anderen Zeitlichkeit verbinden, die wir auch in uns tragen.
Unsere Körper sind nicht von der Welt isoliert, sondern radikal mit ihr verbunden. Wir bestehen aus denselben Substanzen wie unsere Umwelt. Stell dir vor, jede deiner Bewegungen verschiebt die Moleküle der räumlichen Substanz – probier es aus! Oder: Jeder Atemzug ist eingebunden in den Sauerstoffkreislauf unseres Ökosystems.
Wir hinterlassen Spuren und Abdrücke. Unsere Handlungen schreiben sich in unsere Umwelt ein, die uns antwortet, informiert, formt. Unsere Verantwortung ist nicht an unser Wort gebunden, sondern an unsere Handlungen, unsere Handhabungen. Den Eindrücken und Abdrücken also, die wir erzeugen und die uns zeugen.
Unser ökologischer Fußabdruck: die biologisch produktive Fläche auf der Erde also, die notwendig ist, um den Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen (unter den heutigen Produktionsbedingungen) dauerhaft zu ermöglichen. Gemeint sind alle Flächen, die zur Produktion von Kleidung und Nahrung, zur Bereitstellung von Energie, für die Entsorgung von Müll benötigt werden.
Auch jetzt, wenn du hier sitzt, stehst und diesen Text liest. Wenn diese eigenartig abstrakten schwarzen Zeichen auf Grund der synästhetischen Verschränkung deiner Sinne zu einer Sprache werden. Die gleichzeitig von der Produktion des Buchs, dem Papier, dem Druck und seinen Materialien erzählt. Von all den Menschen, die hier ihre Gedanken eingebracht haben. Von dem Autor, der die Einladung ausgesprochen hat und den Ressourcen, Erfahrungen und Geschichten, die damit verbunden sind.
Du und ich und all das: Teil eines multidimensionalen Abdrucks – Teil einer lautlosen Schrift, die sich eingräbt und fortschreibt.
Das ist die Schrift der Körper. Sie rankt sich um materielle Bedingungen und entsteht aus ihnen. Es ist eine Schrift, welche die Trennung zwischen Körper und Geist auflöst. Eine Schrift, die aus Berührungen entsteht. Es ist die Schrift, mit der dein Körper und alle Körper zu dir sprechen und Lebensbedingungen beschreiben.