Versuch zu Hélène Cixous

Lecture 22 Oct 2017German

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‚Versuch zu Hélène Cixous’ ist in Resonanz zu einem Gespräch mit Hélène Cixous im Institut français d’Autriche entstanden, in dem – durch eine kurze Lesung – auch das Buch Osnabrück vorgestellt wurde. Es war ein Gespräch über das Schreiben, die Schrift, das Verlagswesen und die eigene Biographie, dem Sabina Holzer und Kilian Jörg gefolgt sind und welches sie zu Erfahrungen und Fragen zu Verschriftlichung im digitalen Zeitalter geführt hat.

 

“Eigentlich sollte man dazu im täglichen Leben fähig sein” sagt der weiß-graue Kopf und freut sich das Erinnern der Schrift übergeben zu haben. Sie soll das Speichermedium sein, damit der Kopf frei bleibt – frei bleibt zum Fühlen, frei zum Rausch. Rauschen in Textzeilen. Schwarzes Rauschen, weißes Rauschen. Symbiose mit der Linie, der Kurve, dem Schwung. Und das, was sich darüber hinaus schleudert. 1 und 0, ja und dein, er oder sie. Die Maschine. Dein Service. Man ist gepackt von ihr, nicht mehr mit Gewalt, sondern mit Notwendigkeit führt sie uns, intensiviert unsere Wahrnehmung, augmentiert unsere Realität.

Siliziumplatten stellen wir ihr zu Ehren auf, schlürfen dem Boden seine Ressourcen-intensiven Erden aus. 

Glatte Oberflächen, erst mannigfaltig - und durch unser geputschtes Erinnerungsvermögen galvanisiert zu klickbaren Oberflächen, die uns die ganze schöne Textwelt zur Verfügung stellen. In ihr wollen wir den Kick spüren, sonst landen wir ja noch im grande n‘importe quoi, im großen Irgendwas.(1) Und wenn wir auch wissen, dass wir nicht vom Himmel gefallen sind, hindert dies uns noch lange nicht, den Himmel auf die Erden fallen zu lassen. Der Dreck lässt sich nur von außen beobachten, und wir sind immer drinnen. Online. Auf der Linie bleibend. Linie haltend.

 

„Sterben ist eine seltsame Weise zu leben.” Es kann durch einen Upload ersetzt werden, indem die Welt zu Echtzeit wird. Dort dann für die Ewigkeit. Für die magnetische Aluminiumwelt. Mit allgemein durchgesetztem Mindesttempo 299.792.458 Meter pro Sekunde. Gerne auch unendlich, wenn geht - Wunschliste an Quarks und Quanten. - Frau kann ja mal freundlich nachfragen. Nicht austauschbar werden, uneinholbar werden. – Gleiten in die absolute Freiheit. Wir stehen bei der weiß-grau verwüsteten Textwelt in der Kreide. Es gibt keine Möglichkeit keine Spuren zu hinterlassen. Also nehmen wir die Spur auf. Nehmen sie an. Werden Spur. Während in einem verrückten Tanz die Finger über die Tastatur hüpfen. Geben uns diesem Hüpfen hin. Zuckender Körper vor glänzenden Oberflächen. Wir kriegen dich. Ich kriege mich. Wer bin ich in diesem Krieg? Wo bin ich? Ins Netz gegangen. Verschrieben, verschrien, verschränkt. Dieser Zaubertanz hat sich verselbstständigt. Echokammer, rufen wir - und freuen uns über die nette Antwort. Nicht mehr austauschbar, notwendig, von ihr geführt. Textur geworden. Immer werdend. Damit endlich etwas passiert. Etwas magisches, mit revolutionärer Kraft, bitte sehr, von Zeit zu Zeit. Wie‘s halt im echten Leben sein sollte.

 

Das echte Leben. Wo ist es? Habe ich etwas versäumt? Etwas verpasst? Was ist passiert?  Und wie kann ich es begreifen? Habe ich adäquate Greifarme? Kann ich welche bauen? Mit Zangengriff und Messer. Das Leben bemessen, ausschneiden und rahmen. Für mein Bildschirmfenster. Ins Leben. Und zum Teilen mit fernen Freunden.

“Jemand, Sie oder ich, tritt vor und sagt: ich möchte endlich lernen, endlich lehren, zu leben. Endlich, aber warum? Lernen und lehren, zu leben. Eine merkwürdige Losung. Wer sollte lernen, und von wem? Lehren zu leben, aber wen? Wird man es jemals wissen? Wird man es jemals verstehen, zu leben?” (2) Wo ist die Grenze? Zwischen mir und dem Leben? Zwischen mir und nicht-mir. Zwischen Leben und Nicht-Leben? Aus dem Leben erzählt. Gezählt. 0 und 1. Leben als seltsame Art zu sterben? Seltsame Samen. Wir mutieren - enorm - und brauchen viel Zeit Zeit Zeit. Wetterleuchten. Seiende in der Sprache sind wir, Heim und Unheim zugleich.(3) Umschlagen ins Unheimelige vom einzigen Heim, dem Text. Alles andere hat er demontiert.

 

“Im Text ist allein die Tatsache viel Zeit zu haben Liebe. Einen Menschen zu beobachten, auch wenn man ihn etwas Grausames tun sieht. Zuhören, nachgehen, Folge leisten ist eine Form von Liebe. Die Anstrengung ein Unternehmen zu verstehen bis Du den Moment erreicht hast und Du nicht verstehen kannst. Das ist, was Liebe betrifft, die nachhaltigste Trainingsform.” (4)

 

Das Leben, die Liebe. Das Leben, das Liebe ist. Kreideweißer Phönix der Demontage. Nichts anderes bleibt. Ich kann halt Liebe nur und sonst Garnichts. Nur leben die Liebe. Sie hält die Welt zusammen, denn unser essentiellstes Bedürfnis ist Gutenbergs Eingebundenheit.(5) Zusammenbleiben, bitte. Auch Ada Lovelace (6) bindet ihre (Liebes) Bänder. Abstrahiert, mathematisiert und so weiter. 1010101011

Das stört uns nicht. Das Schreiben, Beschreiben, Umschreiben; das Lesen, Herauslesen, Auflesen. Erlesen, belesen mit und ohne -- Besen. Das ist die Kunst. Kreidebleich. Tafelquietschen mit langen Fingernägeln, schmerzhafter Flaum auf den Zähnen. Hexenflug.(7)

 

Die Kunst: die Literatur, die Philosophie, das Denken. Das ist das Lebendige. Nur mehr im Text gibt es das Lebendige, sonst ist eh schon alles tod. Natur ist Kultur, zugepflasterter Schauer. Schrift ist lebendiger als die Welt. Lebengebende Weltenerfinderin. Die Suche nach dem noch Ungedachten, für das es eine Sprache in der Sprache gibt. Unendlichkeit zwischen zwei sich ansehenden Spiegeln. Massenproduktion. Platz da! Für globale Bücherfabriken! Wir produzieren unsere eigene Selbstreferentialität. Man fragt sich überhaupt, was dort fabuliert und fabriziert wird. Dafür gibt es keinen Respekt, nur Echokammern. Immer wieder! Immer wieder! Immer wieder: Leben in-der-Echokammer!

 

Doch die Spiegel, sie mögen sich nicht mehr. Verspiegelt können sie nicht mehr ansehen, ohne ihr Ansehen zu zerstören. Keine Alice hinter den Spiegeln, kein Wunderland.

 

Ist das lebendige Denken überhaupt in guter Gesellschaft in diesen monopolisierenden, monologisierenden Gesellschaften? Diesen geselligen Gleichmachungsmaschinen, globalen Fabriken, fabrizierteren Klobusen.(8) Diesen Kaum-mehr-Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Zwischen Mensch und Zeichen. Alles fluktuiert, springt, schwankt und dreht sich. Ein schöner Tanz, fast. Zauber, auch. Sicher. Aber der schönste Tanz und beste Zauber ist das Zuhören, Nachgehen. Folge leisten. Folgen. Schreiben. Wie alle andern auch.

 

Alles was sich einschreibt ist Schrift.(9) Einschreiben, einreiben, abdrücken. Wegdrücken. Abstand nehmen. Kaum habe ich ihn genommen, bin ich schon in die nächste Nähe gerückt. Kein Platz hier! Kein Raum, kein freies Feld, keine Aussicht. Eingebunden in Ada Lovelace’ Liebesnetz suche ich mich in dem Versuch mir eine Höhle zu bauen, eine Grotte, ein Gretchen. Eine Frage. Einen Ruf. Zu finden, zu hören. Zurückziehen und ausdehnen zugleich muss ich mich. Mobilisieren mit Kräften und Säften. Rund um den Klobus. In homöopathischen Dosen vielleicht - aber immerhin. Mit dem Haltlosen, Verworfenen produktiv werden. Minoritär werden. Tier werden. Frau werden. Alles Werden. Lust als Quelle und Motor begreifen. Auf ihr beharren, sie einbringen, begreifbar machen, hin griffeln, begrifflich machen. Fließen lassen. Glucksen (manchmal glücklich). Haha gesellschaftliche Veränderung! Haha Alufolie recyceln! Unbegreiflich formbar, normbar. Wie war das mit Grenze? Funkelnd im Finstern. Die werden wir nicht mehr so schnell los!Das bleibt.Reflexiv, das Licht zurück werfend. Und das Ich auf mich. Auf mich zurückgeworfen stellt sich mein Stoffwechsel um in schimmerndes Kreideweiß. Tafelmahl. - Und: abservieren! Ausgeschieden in die Knochengrubengrotte. Zermalm die Knochen, sieb die Erde. Lass die Grenze. Werde! Sei Grenze. Bau Dir deinen Raum. Lebe deinen Traum! Dreamliner, Traumreisen, in serieller Massenproduktion. 5 Bit. (10) Mit einem Wort. Vergiss das W, mach einen Ort. Und so weiter. Lass uns wie Weltmeister Worte werfen. (11) Meisterliche Welten entwerfen. Wo ist der Körper? Vergiss das W, O(h) ist der Körper. Oh, ist der Körper geworfen in die Welt? Die Geschichte der O? (12) Weswegen wir fallen. Immer zu. Immer wieder. Fallend und lallend. Zuviel O. Lachend auch, N2O, singend. Auf unserem Weg. Verschmutzen ihn, le mal propre, das eigentliche Übel (13), fader Feinstaub. Fällt gerne. Wir bedecken die Erde und nehmen ihr Luft zum Atmen. Berauschen uns daran.

 

Auch hier, wenn ich tippe, unzählige Male auf dieser tappsenden, tastenden Tastatur, die Vögel sommerlich vor meinem Fenster, auch hier, Herzschlag, Innehalten, Blick schweifen lassen, Nacken entspannen, Fußposition verändern, Stirnrunzeln. Alles da. Es ist die Welt, welche die Bewegung und Beweglichkeit – die „moveance“ – der Schrift ist. Das Leben und darum auch die Toten, die die Schrift im Herzen ausmacht. (14) Die Schrift im Herzen. Alphanumerische Kürzeln, Molekülreihen, steuern die Zentralmaschine ihr zu. Wie Soldat_innen gliedern sie sich ein, im Herzkreislauf. O2 O2 O2 O2. Wir wollen den Sauerstoffrausch, permanent! Im Sonderangebot. Binden das Hämoglobin, CO2 kommt auch mit, wenn’s sein muss. CO, her damit! Bitte töte mich. (15) CO ist das Textteil, das mich vernichten will. Co-Täterschaft, Co-Autor_innenschaft, Co-Management. (16) Teilung, Zerteilung, Organversagen. Organisationsversagen.

 

Im Jahr des gefährlichen Träumens wurden die Soldat*innen umbenannt. Die Einheit muss erhalten bleiben, sagt das CO-unfähige Leben, es sträubt sich, will die Demokratie nicht mehr, will lieber nur mehr Bücher lesen, alleine, durch die Abwesenheit verstören, wie anno dazumal. (17) Und auch gar nicht mehr den ganzen Scheiß atmen. Ich bleib’ in meinem Zimmer, in der kreisrunden Echokammer, da bleib ich - und bestürze mich über die Welt, die ankommen will. Lieber nicht, lieber nicht stürzen. Kreisen, nichts überstürzen. O2O2O2O2O2O2O2O2O2O2O2O2O2. Um sich dann doch im Denken zu überstürzen. Und zu stürzen. Fallen. Wie es uns die Bücher überliefern. Was soll das?

Wenn ich über Kunst spreche, geht es ums Denken. Um eine Auseinandersetzung um die Welt.

 

Fußnoten

(1) Hélène Cixous im Gespräch im Institut Français Vienne am 30.5.2017

(2) Derrida, Jacques. Marx’ Gespenster. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2014, (4.Auflage)

(3) Hélène Cixous im Depot am 30/5/17 - “temps” heißt auf Französisch sowohl “Zeit” als auch “Wetter”

(4) Hélène Cixous im Gespräch im Institut français d'Autriche  am 30.5.2017

(5) Cixous im Depot am 30.5.17

(6) Augusta Ada Byron King, Countess of Lovelace, allgemein als Ada Lovelace bekannt (geborene  6 Augusta Ada Byron) 1815 - 1852, britische Mathematikerin. Für einen nie fertiggestellten mechanischen Computer, die „Analytical Engine“ von Charles Babbage, veröffentlichte sie als Erste ein komplexes Programm: Es nahm wesentliche Aspekte späterer Programmiersprachen Aus diesem Grund wird sie heute nicht nur als erste Programmiererin der Welt, sondern als erster Programmierer überhaupt bezeichnet – fast einhundert Jahre vor den modernen Pionieren der Programmierung wie Grace Hopper, Jean Bartik oder Howard Aiken. Die Programmiersprache Ada und die Lovelace Medal wurden nach ihr benannt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Ada_Lovelace )

(7) “Denken heißt stets einem Hexenflug zu folgen.” - Isabelle Stengers über Deleuze / Guattari in: S.73  7 aus Spekulativer Konstuktivismus. Merve: Berlin 2008.

(8) Franz Gsellmann schreibt in seiner “Weltmaschine” das Erdenrund mit “K”, nicht mit “G”. 8

(9) Derrida, Jacques. Marx’ Gespenster. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2014, (4.Auflage)

(10) Mit 5 Bit lassen sich alle Zeichen des lateinischen Alphabets abbilden

(11) Hélène Cixous im Gespräch im Institut français d'Autriche am 30.5.2017

(12) Geschichte der O (französischer Originaltitel: Histoire d’O, englisch Story of O) ist ein 1954 erschienener erotischer Roman von Anne Desclos (bekannter als Dominique Aury), die ihn unter dem Pseudonym Pauline Réage veröffentlichte.

(13) Michel Serres: Das eigentliche Übel, Merve: Berlin 2009. Le mal propre heißt im französischen das eigentliche und das saubere Übel / Böse.

(14) Das Lachen der Medusa, Passagen Verla

(15) Das körpereigene Hämoglobin bindet CO2 40mal wahrscheinlicher als das eigentlich benötigte O2.

(16) http://kilianjoerg.blogspot.co.at/2017/06/the-lure-of-modernism-documentation.html

(17)  Nach der Einführung des Buchdrucks mokierte man sich gerne über Lesende und ihre medial bedingte Abwesenheit.