Fleisch und Blut der Worte
„Love is my sin“: Peter Brook im Landestheater St.Pölten
Peter Brook zählt mit Jerzy Grotowsky zu den wichtigsten Erneuerern des zeitgenössischen europäischen Theaters der 60er und 70er Jahre. Er hat in seiner Arbeit die Konstitution des Theaters als Institution und als öffentlicher Ort, an dem Kommunikation stattfindet, stets von Grund auf untersucht und befragt.
Die Shakespeare-Inszenierung „Titus Andronicus“ (1955) mit Laurence Olivier und Vivien Leigh stand am Anfang von Brooks Weltkarriere. Als er 1962 Co-Direktor der Royal Shakespeare Company wurde, gründete er gleichzeitig eine eigene experimentelle Theatergruppe. Die Arbeit mit dieser Gruppe, dem Lamda Theater, war geprägt von der Auseinandersetzung mit den theatertheoretischen Schriften von Antonin Artaud. In dieser Zeit entstanden u.a. Peter Weiss' „Marat / Sade“, die Vietnam Collage „US“ und Senecas „Ödipus“. Mit einer weiteren legendären Shakespeare-Inszenierung von „Ein Sommernachtstraum“ zog er sich aus dem konventionellen Theaterbetrieb zurück, um 1971 in Paris ein Zentrum für internationale Theaterforschung ins Leben zu rufen. Er stellte ein Ensemble mit Mitgliedern aus unterschiedlichen Kulturen zusammen und begab sich mit ihm auf die Suche nach einer gemeinsamen Theatersprache. Die Überzeugung, dass sich neues Theater jenseits von sprachlichen und kulturellen Grenzen begibt, bestimmte von Beginn an die Arbeit im Institut.
Berührung mit Fragmenten anderer Kulturen
Diese Untersuchung mündete in einer Forschungsreise durch Afrika, in deren Verlauf er und seine Gruppe das Theaterspielen in Gegenden testete, in der es keinerlei institutionellen Theaterraum gab. (1) Der damals an allen Orten ausgerollte Teppich als Markierung des Spielraums bleibt ein fester Bestandteil seines Bühnenbildes. „Jahrelang arbeitete ich in der geschlossenen Kultur des Westens. Dann wurde mir bewusst, dass der Westen kein Ganzes ist, sondern nur ein Fragment. In diesem Moment empfand ich die Notwendigkeit, mit anderen Fragmenten in Berührung zu kommen“, sagt Brook über die Motivation dieser Reise. Konfrontiert mit nichtwestlichen Wahrnehmungspraktiken, erkannte der Regisseur, dass das Publikum ein schöpferischer Bestandteil der Aufführung ist. „Theater ereignet sich“, so Brook, „in der Verbindung von geben und nehmen“. Als Meilenstein zu einer neuen Welttheaterkultur feierte die internationale Kritik seine neunstündige Inszenierung des Sanskrit-Epos „Das Mahabharata“ von 1985.
Schon 1974 wählte Brook für sich und seine Gruppe einen festen Spielort, das Pariser Theater Les Bouffes du Nord, an dem er seitdem arbeitet und forscht. Brook hat über die Jahre einen sehr schlichten Inszenierungsstil entwickelt, in dessen Zentrum die SchauspielerInnen und die Kommunikation mit dem Publikum stehen.
Persönliche Erfahrungen und traditionelle Motive
Shakespeares 154 Sonette wurden erstmals 1609 publiziert. Der Begriff Sonett kommt von dem lateinischen sonus, was so viel wie Klang, Schall bedeutet. Sonette sind Klanggedichte, die damals vorwiegend im kleinen Kreis von Freunden vorgetragen wurden. Seit Petrarca waren Sonette eine Gedichtform, die immer die liebende Verehrung einer schönen, unerreichbaren Frau zum Gegenstand hatte. Shakespeare brach mit dieser Konvention durch eine Provokation, deren Sprengkraft bis heute nachwirkt.
Seine Sonette 1 bis 126 richteten sich an einen „young man“. (Diesem homoerotischen Aspekt der Sonette widmete sich etwa Nigel Charnock - Tänzer, Choreograf, Mitbegründer des DV8 Physical Theatre, bis 2006 Leiter der Helsinki Dance Company - in seinem gefeierten Soloprogramm „Fever“.) Ab dem 127. Sonett tritt bei Shakespeare eine angebetete „dark lady“, eine dunkle, geheimnisvolle Femme fatale, in den Mittelpunkt.
Die Sonette werden oft - und auch hier von Peter Brook - als Tagebücher von Shakespeare bezeichnet. Das Künstlerverständnis der Renaissance begründete sich allerdings in einem „Nachschöpfen“ und Weiterverarbeiten von bestehenden Themen, und so verbindet sich auch bei Shakespeare als persönliche Erfahrungen Gedeutetes mit traditionellen Motiven und bestehendem Kompositionshabitus: das Nebeneinanderstellen von Gegensätzen zum Beispiel oder eine eingehende Selbstanalyse, der dann allgemeine Betrachtungen gegenübergestellt werden.
Für „Love is my Sin“ im St. Pöltener Landestheater hat Peter Brook 31 Sonette ausgewählt, um, wie er im Programmheft sagt, eine dramaturgische Bewegung zu entwickeln, für die er sich von den verborgenen Fragestellungen in der Beziehung zweier Personen leiten ließ. Auf der Bühne stehen auf einem Teppich drei Holzstühle und zwei etwas höhere Hocker, die als Pult für die Texte dienen. Die Sonette sind in vier Abschnitte aufgeteilt: Die alles besiegende Zeit. Die Trennung. Die Eifersucht. Die besiegte Zeit.
Das Licht im Auditorium ist noch an, als der Musiker Franck Krawczyk Akkordeon spielend auf die Bühne tritt (Musik von Louis Couperin). Erst als die Schauspielerin - und Brooks Ehefrau - Natascha Perry und der Schauspieler Michael Pennington auftreten, wird es auch im Publikumsraum finster, und ein intimes Zwiegespräch beginnt.
Reflexive Distanz und Magie
Die ersten Reden sind dem Publikum zugewendet, und nur die Platzierung und Ausrichtung im Raum der Darsteller machen ihr Verhältnis zueinander auf undramatische Weise sichtbar. Eine ausgezeichnete Alltagshaftigkeit und Freiheit im Text lassen beinahe vergessen, dass es sich um Shakespeare-Englisch handelt. Beide Schauspieler wissen sich dem Reichtum und der Nuanciertheit der Sprache hinzugeben und schaffen immer noch einen weiteren Raum für diese gewisse reflexive Distanz, über die ein Text zur Geste wird, mit der versucht wird, sich einander anzunähern.
Peter Brook wird nachgesagt, dass er „stets von der Suche nach dem reinsten Zeichen und der größten Einfachheit geleitet ist, dass er einer Utopie der Ursprünglichkeit folgt, eines puren Theaters, das stets auch Ritual und Magie ist.“(2) Man könnte auch, um die Empfindung von etwas Essenziellem zu umschreiben, sagen: „Love is my sin“ ist eine ausgezeichnete angewandte Lecture Demonstration über Zeit, Raum und Kommunikation im Theater. „Die Kraft des Theaters besteht darin, die Vagheit der Worte deutlich zu machen und ihnen gleichzeitig Fleisch und Blut zu geben“, sagt Peter Brook.
Der leise Tanz von Natascha Perry und Michael Pennington ist ein Spiel von Möglichkeiten in verschiedenen Sprachräumen. Sie atmen, sinken und verwandeln - oder, anders gesagt: stehen, sitzen, gehen mit dem Rhythmus der Sprache. Sie zaubern und berühren, ganz aktuell und sehr unspektakulär.
Fußnoten
(1) vgl. Farid al-Din Attar, Jean-Claude Carrière, Peter Brook: Die Konferenz der Vögel, Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979.
(2) Urs Jenny, ‚Insel der Seligkeit‘, Der Spiegel, 24.09.1990