°.°: Haunting O.W.L.

Chris Marker und „Level Five“

Corpus 25 Oct 2008German

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Chris Marker ist ein Kino-Essayist. Ein audiovisueller Poet. Seine Filme sind Meditationen, die von dem Paradox der Erinnerung und der Möglichkeit, die Zeit zu manipulieren, angetrieben werden. Sie sind philosophische Untersuchungen, um die Welt durch Medien zu verstehen.

Als Filmemacher, Fotograf und Literat ist Marker einer der Motoren der filmischen Avantgarde in Europa. Er hat wie Jean-Luc Godard, Alain Resnais, Pier Paolo Pasolini, Wim Wenders, Harun Farocki oder Werner Herzog den Film und den Kino in seiner Form revolutioniert. „La Jetée“ (1962) und „Sans Soleil“ (1983) sind wahrscheinlich seine bekanntesten Filme. Seit den 80er Jahren zeigt er großes Interesse an elektronischen Medien. „Level Five“ von 1995 ist ein Resultat dieser Faszination und wird auch gerne als Science Fiction bezeichnet.

Marker tritt konsequent nur durch seine Arbeiten in Erscheinung. Er heisst weder Christian noch Marker und lässt sich aus Prinzip weder interviewen noch fotografieren. Es gibt das Gerücht, dass er auf Anfrage nach einem Foto von sich das Bild einer gezeichneten Katze verschickt. [1] Guillaume (die Katze) und Eulen sind ihres Zeichens seine Begleiter („The owl is for the cat, as the angel for the man“, sagt er in seinem Film „The case of the grinning cat“. [2] ).

Ein Essayist ist - wie Peter Sloterdijk sagt - ein Navigator in unsicherem Gewässer, der seitliche Suchbewegungen mit der Arbeit an der fortlaufenden These zum Ausgleich zu bringen sucht. In Markers Essayfilmen tritt das Wort gleichberechtigt neben das Bild. Gesprochene Texte haben literarische Qualität, „verankern“ sich jedoch in dokumentarisch vorgefundenen Szenen. [3]

 

Okinawa mon amour *

...Es ist all das. Das, was wir schreiben und konstruieren. Ein Flash von einer Stadt in der Nacht. ...Die Vision ist in seinem Kopf. Mit Licht und Bewegungen. Er weiss nicht, was das alles darstellen soll. Er hat nur eine Vision von Poetik. Er sieht Licht. Er sieht ein Meer von Licht. Die Bilder in seinem Kopf sind Lichter. Sie sind Vögel. Gedanken, Erinnerungen, ein Feld von Halluzinationen. - Es kann einem auch Angst machen. … *

In Chris Markers Film „Level Five“ sitzt eine Frau in einem Arbeitszimmer und spricht. Sie sitzt vor einem Computer. Der Bildschirm ist eine verkleinerte Kinoleinwand. Sie spricht direkt mit der Kamera, oder in den Computer.

Catherina Belkhodja ist die einzige „Schauspielerin“ in diesem Film und spielt Laura. [4] Diese beschäftigt sich mit einem Computerspiel, das sie mit ihrem verstorbenen Geliebten zu entwickeln begonnen hat. Das Computerspiel ist ein Kriegsspiel, mit dem man mittels Simulation verlorene Kriegsschlachten rekonstruieren kann, um sie in Folge strategisch umzuschreiben. Laura widmet sich den Schlachten der Alliierten gegen Japan während dem Zweiten Weltkrieg. Sie bewegt sich mittels einer Maske, eines Avatars durch das Netz der Netze* verirrt sich immer wieder und muss sich in morphenden Überlagerungen und Auflösungen von Bildern zurechtfinden.

Als sie die Schlacht um Okinawa wegen geringer Relevanz aus ihrem Programm löschen will, kommt sie mit der Schnittstelle O.W.L. in Kontakt. O.W.L. (Optional World Link) ist die Verbindung aller gegenwärtigen und zukünftigen Netzwerke, und sie weigert sich, Lauras Eingabe auszuführen.

Laura macht sich auf die Suche nach Informationen, Daten und Dokumenten. Sie erfährt, dass es sich bei der Schlacht um Okinawa aus dem Jahre 1945 um eine im Westen beinahe unbekannten Tragödie handelt, die den Ablauf des Zweiten Weltkrieges jedoch maßgeblich beeinflusst hat. - Ohne Okinawa hätte es Hiroshima nie gegeben.*

Okinawa war die letzte japanische Bastion im Pazifik, das letzte Hindernis für die Amerikaner vor ihrem Ziel Japan. 120.000 Elitesoldaten erhielten den Befehl, die Insel bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Zusammen mit rund 450.000 Zivilisten erlebten sie im März 1945 verheerende Luftangriffe und schwere Artillerie von See. Am 1. April begann die Invasion der US-Streitkräfte. Trotz erbitterten Widerstands gelang es ihnen nicht, der gegnerischen Übermacht standzuhalten. Es war das erste und einzige Mal, dass die Japaner sich während einer Schlacht zu Tausenden ergaben.

Die Vorgänge rund um Okinawa sind aus der offiziellen japanischen Geschichtsschreibung verschwunden.

Die Generäle wussten, woran sie waren: der Auftrag ist selbstmörderisch und die Schlacht aussichtslos verloren. Das ist kein Hindernis (...) Flugblätter über den Sieg zu verteilen, noch für grausame Strafen gegen jeden, der den leisesten Zweifel äussert. (...) Aber ist es nicht angesichts der verlorenen Schlacht wichtig, die Gesinnung der Samurai zum Ausdruck zu bringen? - Die japanischen Soldaten, die an lebenden Gefangenen Bajonettübungen durchführen, oder die, die in belagerten Höhlen Säuglinge ersticken, damit ihr Geschrei nicht die Aufmerksamkeit des Feindes auf sie lenkt. Das klingt nicht gerade nach Samurai. Aber all die, die sich in den unterirdischen Stellungen der Admiralität mit Handgranaten das Leben nehmen konnten, stehen vollkommen in dieser Tradition.*

Die japanische Armee reorganisierte die ganze Wahrnehmung des Lebens rund um diesen verordneten kollektiven Selbstmord.

Diesem kollektiven Trauma, dieser verstummten, bildlosen Wunde hat sich Marker weitgehend über unbekannte Zeitzeugnisse und Dokumente angenähert. Archivaufnahmen wechseln mit Sequenzen aus dem heutigen Okinawa. Die Erzählungen von Zeitzeugen gibt Marker meist ohne Übersetzung wieder. Die Geschichtserzählung bleibt fragmentarisch, bewegt sich zwischen Bildern und Texten. All das windet sich rund um einen imaginären Dialog, den Laura mit ihrem verstorbenen Geliebten führt.

 

Die Stimme als Spur in die Gegenwart

Laura erzählt ihm von ihrem Alltag, bespricht das Material, das sie aufspürt, und teilt mit ihm Betroffenheit und Verwirrung. Sie gibt ihm durch ihre Ansprache eine Gegenwart und scheint mit ihrer Stimme in Zonen vorzudringen, die jenseits unserer Begrifflichkeiten liegen. In jene Gebiete, wo die Geschehnisse rund um Okinawa jahrzehntelang als Verschüttetes und Verdrängtes abgelagert wurden.

So verflicht sich eine individuelle Geschichte des Verlustes, des Andenkens an eine Person und die Bemühungen weiterzuleben, mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte. Die Figur des unerreichbaren, weil verstorbenen Geliebten erzählt über den Umgang mit Erinnerung als Konstitution eines Ichs, das zugleich immer auch der, die und das Andere ist, das es zu befragen gilt.

Auch Bild und Text befragen einander. Sie sind Gesten des Hinweisens, nicht der Beschreibung oder Definition. Sie sind Ausgangsmaterial für eine Art visuelles Schwanken, mit dem eine gewisse herkömmliche Logik verloren geht. In diese Verschränkung von Text und Bild verwebt sich Lauras Geschichte mit der Okinawas.

Laura wird Teil eines distanzierten Ortes, eines Ortes noch dazu, den sie und ihr Geliebter geteilt haben. Einen Ort, der nicht mehr existiert. - ... Ich begab mich auf die Reise mit den beiden nach Tokyo. Ich liebte diese Stadt ebenso sehr wie sie, aber das Motiv des Spiel gab mir einen neuen Zugang. Einen Zugang über den Krieg. Ich war mittlerweile so japanisch geworden, dass ich am allgemeinen Gedächtnisschwund teilhatte. Als hätte dieser Krieg niemals stattgefunden.* Das spricht unvermittelt eine männliche Stimme aus dem Off. Eine weitere Spur als Stimme.

Laura ist Teil der Erinnerung, in dem sie sich erinnert. Sie wird zu einem Geist, der sich durch die Zeiten bewegt, jenseits der räumlichen Begrenzungen. Sie gesteht ihrem verstorbenen Geliebten, dass sie manchmal Angst hat, auf etwas in dem System zu stossen, das er vor ihr verborgen halten wollte. Und der Erzähler, die Stimme aus dem Off, gibt im Verlauf des Filmes zu verstehen, dass sich Laura zeitweise mit dem Nervensystem ihrer Gesprächspartner im Netz zu verbinden scheint.

Gesprochenes und Unausgesprochenes tastet sich durch die Erinnerung und begleitet sie auf ihren Reisen. O.W.L., die Schnittstelle - und nicht das Zentrum - ist für diese Art von Reisen zuständig. Die Stimme Lauras, des Erzählers und die Zeitzeugen, die zu Wort kommen (selbst wenn sie eine andere Sprache sprechen) „verbinden sich mit dem Abwesenden, Signum in Differenz in Zeit und Ort.“ [5] Die Stimme als Medium zwischen Lebenden und Toten, zwischen Laut und Sinn. Die Stimme als Übergangsphänomen, als Medium von Verwandlung und Übertragung.

 

Vergegenständlichung von Lücken

Sprache und Bild wird durch den Einsatz des mit der Schnittstelle O.W.L. vernetzten Computers (der eigentliche zweite Schauspieler) doppelt medialisiert und choreografiert. Das Abwesende, den Diskurs über Vergangenheit, der immer auch Diskurs über Tote ist, transportiert sich über das Gedächtnis als Maschine in die Zukunft.

Bilder und Wörter der Vergangenheit - selbst aufgenommene oder geliehene, berühmte oder scheinbar banale. Sie werden verlangsamt, angehalten, neu kadriert, vervielfacht und überlagert. - Was können sie uns heute über die Geschichte erzählen? Was erzählt der Geist der Geschichte?

Nicolas Abraham schreibt über das Phänomen der Geister: Das Phantom (le fantôme: das Gespenst, der Geist) - in allen seinen Formen - ist eine Erfindung der Lebenden. Eine Erfindung in dem Sinn, dass es, wenn auch halluzinatorisch, individuell oder kollektiv, jene Lücke vergegenständlichen muss, welche die Verdunklung eines Abschnitts im Leben eines Liebesobjekts in uns erzeugt hat. Das Phantom ist demnach ein metapsychologisches Faktum. Das heisst, nicht die Gestorbenen sind es, die uns heimsuchen, sondern die Lücken, die auf Grund Geheimnisse anderer in uns zurückgeblieben sind.

Das Phantom ist also nicht einfach das Unbekannte und Dunkle, das Verschwiegene oder Heimliche der Überlieferungen. Es ist vielmehr dasjenige, was die Einbildungskraft an Stelle der Lücken in der Überlieferung entstehen lässt, eine Vergegenständlichung der Lücken - Fiktion im eigentlichen Wortsinn. Die Fiktion des Phantoms bezieht sich aber auf das Leben und die Geheimnisse anderer, auf dunkle Stellen in dem, was sie von sich mitgeteilt oder auf andere Weise vermittelt haben, auf ihren Familienroman. Insofern betrifft das Phantom nicht das eigene Unbewusste, sondern das Verdrängte in den Erzählungen der Vorfahren.

Das Gespenst des Volksglauben ist also nichts anderes als die Vergegenständlichung einer im Unbewussten wirkenden Metapher: das Begräbnis eines unaussprechlichen Objekts. [5]

Chris Marker nähert sich dem Unaussprechlichen und Nichtdarstellbaren über die Anordnung von Zeichen. Seine Bilder dienen nicht dem Beweis einer Rekonstruktion eines Ereignisses, vielmehr werden sie hinsichtlich ihrer Ambivalenz und Historizität gelesen. Die imaginäre Kraft von „Level Five“ entsteht durch eine Dimension des Fabulierens, die mehr auf die (De)Konstruktion des Erinnerns abzielt, als auf die Rekonstruktion der Geschichte. [6]

In dem Versuch, die Geschichte zu verstehen, identifiziert sich Laura mehr und mehr mit dem Geschehenen. Sie scheitert daran. Die Schlusssequenz von Level Five wird mit diesen Worten eingeleitet:

Laura hatte begriffen, dass das Spiel nie dazu dienen würde, die Geschichte neu zu gestalten. Es wird sie nur endlos wiederholen in löblicher und wahrscheinlich sinnloser Beharrlichkeit. Die Vergangenheit in Erinnerung zu bewahren, um sie nicht nochmals erleben zu müssen, war eine Illusion des 20. Jahrhunderts. Sie sprach jetzt mit Abstand darüber, als wäre sie an eine Grenze gestoßen. Jenseits davon hatte das Spiel nichts mehr mit ihr zu tun und auch die Geschichte nicht. Ich erfuhr, dass sie nächtelange Gespräche mit den Masken führte, und als ich sie fragte, was sie denn suche, antwortete sie: „Level Five natürlich.“ in einem Ton, der mich glauben liess, dass es ihr besser ginge und dass wenigstens für sie der Krieg aufhörte. Natürlich lag ich da falsch. *

Man sieht eine Großaufnahme Lauras, dann einen Gesichtsausschnitt, eine Wange und ihre Lippen, in der Hand hält sie eine Fernbedienung. Sie spricht mit ihrem Geliebten. Was bleibt? fragt sie. Von der Liebe? Von ihm? Von ihrer Begegnung? Glück, Intensität, Zärtlichkeit, keine Mittelmässigkeit. Das Bild von ihr kommt näher und näher und wird immer unschärfer, während sie wiederholt: „Merci, merci, merci, merci, merci."

„Ich habe Laura nie mehr wieder gesehen," sagt die Erzählstimme aus dem Off. "Als ich in ihrem Arbeitsraum zurückkehrte, schien alles normal. Die Maschinen waren an, als hätte sie soeben das Zimmer verlassen. Als Bildschirmschoner drehte die treue Katze ihre Runden. Das e-mail Programm war von O.W.L. geöffnet. Mechanisch tippte ich ihren Namen auf die Tastatur. Laura." Das System antwortet: „I don't know how to Laura."

In einer Notiz von Chris Marker aus der Arbeit am Film ist zu lesen: „,Level Five’ wird die in ,Sans Soleil’ skizzierte Problematik Dokumentar/Fiktion, Krieg/Japan, Bio/Techno weiter ausbauen und zu einem krönenden Abschluss führen - und vielleicht völlig misslingen. Insofern aber, als man mir die Ehre erweist, sich für meinen Werdegang zu interessieren, kann man ihn als Endpunkt betrachten (keine Lust mehr auf Filme, danach arbeite ich nur noch mit Computer).“ [7]

 

Fußnoten

[1] http://www.sensesofcinema.com/contents/directors/02/marker.html

[2] Zitat aus „The Case of the grinning cat“ von Chris Marker, 2004. http://www.youtube.com/watch?v=5aIE3O-3RKg

[3] Kämper B. / Tode Th. (Hg.), Chris Marker. Filmessayist. München: Institut Français deMunich/cicim 1997, S. 11.

[4] „Laura“, Film von Oskar Preminger aus dem Jahre 1944. Marker nimmt auch im Lauf von „Level Five“ Bezug zu diesen Film.

[*] Textzitat aus „Level Five“.

[5] Siegrid Weigel: 'Echo und Phantom - die Stimme als Figur des Nachlebens', in: Felderer Brigitte Hrg., Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium. Berlin: Matthes & Seitz o.J., S. 58, 64.

[6] Christa Blüminger, „Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes“ http://www.montage-av.de

[7] Kämper B. / Tode Th. (Hg.), Chris Marker. Filmessayist. München: Institut Français deMunich/cicim 1997, S. 328.