Liebhaber im Wilden Wissen

Collage aus einem Gespräch mit Fritz Ostermayer über Taktiken der Wissensaneignung außerhalb von Institutionen

Corpus 29 Mar 2009German

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Ein Bohème geht durchs Zimmer. Oder sitzt er hier am Küchentisch? Man kommt nicht ohne Verallgemeinerung aus. Man begibt sich in verschiedene Richtungen und versucht, den Kern der Dinge frei zu legen. Wildes Lernen: Freunde, Leidenschaft, Liebe, Ahnungslosigkeit, Überraschung. Zeit haben, sie nehmen und gemeinsam verbringen. Lustspendende Hilfe durch gesprochene Worte erhalten. Neugierde. Den Spuren folgen. Bücher. Den Klängen lauschen. Hinwendung zur freien Erzählung. Oral history.

 

Wildes Lernen 1: Lesen. Schreiben. Im Netz.

Ostermayer: Das Lesen und Schreiben im und mit dem Netz hat natürlich große Veränderungen bewirkt. Sie begann schon durch die unterschiedliche Funktion der Tastatur der Schreibmaschine und der des Computers.

Ich habe den Computer lange Zeit nur zum Musikmachen und Komponieren verwendet. Die Stories für Radio oder Zeitungen schrieb ich auf der Schreibmaschine. Da musste ich meine Gedanken im Vorhinein klar fassen, um dann nicht zu viel mit Tipp-ex korrigieren zu müssen. Ich habe damals sicherlich stringenter und klarer gedacht als jetzt . Die Tastatur am Laptop macht mich zum Wilden Denker.

Heute verwende ich auch copy & paste. Du schiebst die Sätze hin und her und konstruierst ganz anders. Früher hatte ich viele Zettel auf meinem Tisch und wußte, mit dem letzten Zettel im Mistkübel ist der Artikel fertig.

Mittlerweile starte ich irgendwie, und es wird auch fertig. Aber es ist ein anderes Schreiben. Ich glaube, auch mein Denken hat sich verändert. Du öffnest stets ein neues Pop-up und kommst vom Hundertsten ins Tausendste. Im Sinne des automatischen Schreibens gibt es jetzt automatisches Denken und automatisches Zappen, wodurch du dann wieder auf Interessantes kommst. Das ist anders als das herkömmliche Bücheraufschlagen.

So hat sich die Idee der Collage absolut vollendet. Was mich nicht zu klagen veranlasst. Ich bin auch einer, der „gerne an Dinge denkt, von denen er denkt, dass andere nicht an sie denken“. Dieser Satz von dem Pataphysiker Boris Vian hat mich schon in meiner Jugend bestätigt, meinem Drang nach kuriosem oder außerschulischem Wissen nachzugeben. Wissen, das verborgen ist oder abgesunken, oder Wissen, dass in der Peripherie liegt, oder besudeltes Wissen.

Auch das hat sich durch das Internet verändert: jeder denkt Dinge, von denen er glaubt, andere denken nicht an sie.

Durch diese Sprunghaftigkeit wird die pataphysische Idee, dass die Wechselbeziehungen mit den Dingen unser Denken lenkt, eingelöst. Du kommst immer auf eine neue Narretei, die befruchtend ist. Das betrifft auch mein Lieblingsgebiet „das nutzlose Wissen“ - diese Anhäufungen, die du niemals und eigentlich immer brauchst.

Alles was nicht utilitaristisch verwertbar ist, gefällt mir sehr. Es hat keinen Marktcharakter.

 

Zwischenfrage: Tanzen ist nicht utilitaristisch. Ist Tanzen wildes Wissen? Ist Tanzen eine Wissenspraxis?

Oder: Ist Wissen eine Maschine? Oswald Wiener würde sagen: Ja.

 

Wildes Wissen 2: Die Pataphysik

Ostermayer: Als ich nach Wien gekommen bin, hat es in der Lerchenfelderstraße einen Buchladengegeben, der nicht größer war als meine Küche. Dieser Laden war voll mit tausenden und tausenden bestausgewählten Büchern. Der Inhaber hat mich immer mit Büchern versorgt und mir Tipps gegeben. „Alfred Jarry“, hat er gesagt, „Alfred Jarry“, den musst du unbedingt lesen.

 

Zwischenruf: PATAPHYSIK. Das ist keine festgelegte Technik, keine beschränkte wissenschaftliche Arbeit. Eher ein Glückswurf, Alfred Jarry gelungen, als das zwanzigste Jahrhundert gerade minus zwei Jahre alt war. ... PATAPHYSIK: ein Erwachen aus dem normalen Weg zum Wissen; ein Gelächter über den Ernst des Sinns und den Sinn des Ernstes; ein Gang an den unbegrenzten Rändern des Nicht-Sinns; Denken der Epiphänomene, an denen sich mehr demonstrieren lässt als an den zentralen Paradigmata des disziplinären Wissens; ironischer Kommentar zur Abwesenheit des Zentrums; ein Jubel über die Erlösung und Rettung der Kuriositäten.[1]

 

In diesem Buchladen waren auch Narren, die sich dann gegenseitig befruchtet haben.

 

Zwischenruf: Freunde und Freundinnen! Die Einfachheit muss nicht immer simpel sein, sondern sie ist vielmehr ineinander verwobene und sich durchdringende Vielfalt![2]

 

Es gibt ein Buch von Maxim Gorki: „Meine Universitäten". Damals waren meine Universitäten eindeutig, das Café Bücke dich hinter dem Rathaus in Wien. „Arschloch“ heisst das im Volksmund, weil man ein paar Stiegen hinunter gehen muss. Das „Bücke dich" gibt es immer noch. Und immer noch mit Original Rolling Stones Singles und Musik von Clearance Clearwater Revival bis Roy Black. Dort haben wir unsere pataphysischen Seminare abgehalten.

 

Zwischengeflüster: Die höchste Versuchung des Geistes.[3]

 

Wir waren alle Dissidenten der Theaterwissenschaft. Ich habe sechs Jahre studiert. Nach der neuen Studienordnung wäre ich Magister, nach der alten ging es nur mit dem Doktoratsstudium. Ich habe ein Jahr lang über mein Dissertationsthema gestritten. Ich wollte Fluxus, John Cage und die Performances aus der bildenden Kunst als Theater beschreiben, als Theater betrachten.

Damals wäre ich der erste mit diesem Vorhaben in der Theaterwissenschaft in Wien gewesen und habe keinen Professor gefunden, der mich begleitet hätte. Als ich schließlich einen gefunden habe, hat dieser den legendären Satz gesagt: „Jetzt muss ich mir den ganzen Scheiß auch noch reinlesen.“ Dann habe ich gesagt: „Herr Professor, jetzt müssen Sie gar nichts mehr. Jetzt scheiß‘ ich drauf.“

Es war so grotesk für mich: Ich war übervoll mit Leidenschaft und Wissen, und er hat dieses Wissen nicht und bezeichnet es als Scheiß. Da dachte ich, leck's mich.

 

Zwischenbemerkung: Mit John Cage haben die Alltagsbewegungen den Tanz erobert. Heute geht die Auseinandersetzung mit dem Choreografischen jenseits der eigentlichen Grenzen des Tanzes weiter in dem Versuch das Subjekt des Körpers neu zu denken. Die Choreografie steht im Dialog mit Theorie und Philosophie, mit anderen Sparten der Kunst. Sie ist der Körper. In „Das Theater und sein Double“ bezeichnet Artaud das Theater als Wissenschaft vom Körper und des ihm Möglichen.

 

Ich habe zum Beispiel am Dramatischen Zentrum in Wien mehr über Antonin Artaud oder Jerzy Grotowski erfahren als auf der Universität.

Auf der Uni gab es nur einen Brechtspezialisten. Er hat Artaud immer als rechten Theoretiker entlarvt oder geglaubt entlarven zu können. Das epische Theater und das Theater der Grausamkeit von Artaud stehen einander ja diametral gegenüber. Die Theaterwissenschaft war auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine ziemlich naziverseuchte Truppe. Die jungen Professoren waren alle eher links, um nicht in den Ruf zu kommen, ungebrochen mit der Tradition der Naziideologie weiterzugehen. Artaud galt als irrational. Man hielt es für gefährlich, so einen Geist wieder auferstehen zu lassen, der nur Gewalt verherrlicht. Was so ja überhaupt nicht stimmt. Artaud wurde meist selektiv und als Überwältigungstheater gelesen.

 

Zwischenlektüre: Artaud und das Theater, als Wissenschaft vom Körper und des ihm Möglichen. Nicht Atemschöpfen, sondern Atem wieder binden, Kontraktion und Entspannung, lokalisierte Kontraktion, zentrale Entspannung, Identifikationsziel.[4]

 

Wildes Wissen 3: Der Fan

Ostermayer: Meine allererste und immer noch übergroße Liebe zur Musik begann zu fruchten, weil ich ein schlechter Sportler bin. Ich war im katholischen Schülerheim Mattersburg. Nach dem Mittagessen gab es immer Leibesertüchtigung - der übliche Sportwahnsinn eben. Ich wollte das nicht und habe immer etwas vorgetäuscht. Nur in der Unterstufe war Sport Pflichtübung. Die Oberstufe hatte Freizeit und ging in einen Freizeitraum. Dort wollte ich auch sein. Ich bin als

10-jähriger immer bei den 18-jährigen gesessen und habe ihrer Musik gelauscht. Sie war so neu, so umwerfend, so anders als alles, was ich aus dem Radio kannte. Velvet Underground, Captain Beefheart, Miles Davis. Es wurde über Musik gesprochen und reflektiert. Wie Fans es eben tun. Ich war 10 Jahre alt und habe alles aufgesaugt. Das war größer als die Welt, die ich bis dahin kannte.

Ich habe mein ganzes Taschengeld für diese Platten ausgegeben. Dann habe ich meinen gleichaltrigen Freunden gepredigt, was ich von den 18-jährigen aufgeschnappt hatte. Ich wollte auch Freunde haben, mit denen ich mich austauschen kann. Die Älteren hätten mich niemals ernst genommen. Die ließen mich sitzen und gewähren. Ich aber wollte mit jemandem reden über diese großartige Musik, die ich gehört und dann auch besessen hatte.

So hat sich auch in meiner Klasse ein Narrenzirkel gebildet, der alles gelesen hat. Ich sagte jetzt alles - was hat es damals schon gegeben... den Music Express, den haben wir dann wie die Irren bestellt. Und es war immer die allergrößte Freude, wenn wieder ein Packerl gekommen ist.

Ich musste schon früh Klavier lernen. Das war natürlich etwas anderes. Das war ein Zwangslernen und hat nie funktioniert. Aber irgendwie war es Musik und ein Anfang. Als ich älter war, habe ich mich auf die Gitarre gestürzt. Aber sowie ich gemerkt habe, dass man so viel üben muss, um gut zu sein, habe ich mich auf die Bassgitarre verlegt. Die Mädchen schauen zwar nicht ganz so sehr auf den Bassisten wie auf den Gitarristen, aber immer noch viel mehr als auf den Organisten. Gitarre umhängen ist besser, wenn man 15 oder 16 ist.

 

Zwischenkommentar: Fan. Der Fan interessiert sich nicht bloß ein bisschen. Er oder sie lässt sich von einer Gruppe oder Strömung total mitreißen und einnehmen. Im Science Fiction und Fantasy Bereich gibt es Fandoms (oder Fantums), welche die ursprünglichen Geschichten weiterentwickeln. Sie machen Fan-Fiction und Fan-Art.

 

Wenn der Fan kein unreflektierter Fan ist, sondern sein Fan-Sein, seine Liebe auch in Wissen investiert, dann kann er ein gebildeter Fan werden und trotzdem einen anderen als einen universitären Zugang zu beispielsweise einem der Phänomene von Pop haben. Es ist ein Lernen von innen.

Der Dilettant ist eigentlich die Vorform des Fan. Der Fan hat für mich in seinem Fan-tum immer recht. Der Dilettant nimmt Diskurse auf und ist mit einer Leidenschaft und Liebe beflügelt, die dem universitären Wissensvermittlungsprozeß fehlt.

 

Zwischenlektüre: Dilettant: Der Begriff hängt mit dem Wort dilettieren zusammen. Es wurde im 18.Jahrhundert besonders für Liebhaber und Kenner musikalischer Werke verwendet. Die Veranstaltung „Die große Untergangsshow - Festival Genialer Dilettanten" fand am 4. September 1981 im Berliner Tempodrom vor über tausend Zuschauern statt. Die gegenüber dem Duden „unrichtige“ Schreibweise des Wortes „Dilettanten“ war ursprünglich ein Schreibfehler auf dem Flyer. Die Übernahme des Schreibfehlers auf dem Merve-Buchtitel, so Wolfgang Müller in seinem gleichnamigen Buch, ist ein Beleg, dass ein „genialer Dilettant" im Unterschied zum „Profi" zu seinen „Fehlern" nicht nur stehe, sondern sie als tatsächliche existierende Realität akzeptiert und sie ganz bewusst in sein Werk einbezieht. [5]

 

Wenn ich sage, ich bin ein Dilettant, heißt das in erster Instanz, ich bin ein Liebender, der sich auf Sachen stürzt, von denen er keine Ahnung hat.

Wenn ich von einem Gebiet zu viel Ahnung habe, dann suche ich mir ein Neues. Sie schläft dann ein bisschen ein und später kommt sie dann wieder, die Liebe.

Was mir auch interessant erscheint im Zusammenhang mit dem Dilettantismus ist, dieses Phänomen einer, sagen wir „künstlichen Unschuld“. Das geschieht, wenn man sich auf etwas, von dem man keine Ahnung hat, mit einer Herangehensweise aus einem anderen Gebiet einlässt. Natürlich bin ich, was Choreografie betrifft, nicht vollkommen unschuldig. Natürlich habe ich viel gelesen und durch mein Studium der Theaterwissenschaft, habe ich mich viel mit Bühnenarbeit beschäftigt. Mit Choreografie an sich kenne ich mich wenig aus, so kann ich mich ihr mit einer gewissen Naivität annähern.

Dann lese ich gerne wieder Martha Graham und die ganzen Merce Cunningham Geschichten. Aber eben mit meinem anderen Wissen, nämlich dem von Pop. Das ist eine Umsetzung der situationistischen Idee: nimm den Stadtplan von New York und gehe durch den Harz. So kannst du auch mit künstlerischen Feldern umgehen. Das ist spannend.

Wenn der Profi seine Versuchsanordnung gemacht hat, dann weiss er: entweder der Versuch scheitert oder gelingt. Anders Wissen ist erst mal zu schauen, was geschieht. Das sind alchimistische Prozesse. Ich würde sagen: Lass dich überraschen!

 

Fußnoten

[1] Manfred Geier: Doktor Ubu und ich - Pataphysiche Begegnungen. Rheinbach-Merzbach: CMZ-Verlag, 1983, S.14.

[2] Alfred Jarry: Der Alte vom Berge. München: Carl Hanser Verlag,1972, S. 31.

[3] Klaus Ferentschik: Pataphysik - Versuchung des Geistes. Berlin: Matthes & Seitz, 2006, S. 258.

[4] Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag GmbH, 1979, S.168.[5] Geniale Dilettanten – Wikipedia