Code: Sacre du printemps

Xavier Le Roy dirigiert Stravinsky im Tanzquartier Wien

Corpus 17 Dec 2007German

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Das Licht auf der Tribüne ist gedimmt, die Bühne großflächig ausgeleuchtet.

Sie ist leer.

Xavier Le Roy kommt in kirschrotem langärmeligem T-Shirt und Blue Jeans auf die Bühne. Er stellt sich breitbeinig mit dem Rücken zum Publikum ins Bühnenzentrum. Stille.

Er hebt den rechten Arm, und mit dem Ausatmen setzt die Musik ein.

Le Sacre du printemps.

Strawinskys Musik und die Choreografie von Nijinsky haben 1913 zu dem grössten Skandal in der Theatergeschichte geführt.

 

Figur des Dirigierens

Hier ist eine Aufnahme von 2004 der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sir Simon Rattle zu hören. Xavier Le Roy hat Rattles Dirigat als choreografische Struktur für seine Version von Sacre du Printemps übernommen. So steht es im Programmheft. Gleich nach den ersten Armbewegungen, den ersten Takten Musik hat diese Setzung auf der Bühne Gestalt angenommen.

Le Roy führt ohne Taktstock und ohne Pult die Bewegungen des Dirigierens aus. Anfangs mit dem Rücken zum Publikum, bis er sich, nach einiger Zeit, die Arme leicht im Takt schwingend, umdreht. Das Publikum wird zum imaginierten Orchester. Seine Arme ziehen hinauf und hinunter. Sie fliegen, setzen Akzente auf Flöten oder Streicher, heben Tonfolgen hervor, folgen Rhythmen und geben – scheinbar – Einsätze.

Xavier Le Roy mimt einen Dirigenten. Er tut das mit spielerischer Präzision und Hingabe. Und auch diesmal hat es, wie so oft, einen ganz speziellen Charme, jemanden zu betrachten, der völlig in seiner Tätigkeit aufgeht und sich selbst zu vergessen scheint. Ein Dirigent tritt, mit der Musik als Gabe sozusagen, in Kommunikation mit den MusikerInnen. Die MusikerInnen sind wir. Ein Dirigent ist ein Ereignis in einem Konzert.

Le Roy zitiert dieses Ereignis.

Strawinskys Werk wurde 1913 im Théâtre des Champs Elysées in Paris uraufgeführt und markierte damals den ersten Schritt zu einem abstrakten Ballett. Es stand am Anfang einer neuen Bewegungsästhetik. Ähnlich wie in den Ursprüngen des damals einsetzenden deutschen Ausdrucktanzes und des späteren amerikanischen Modern Dance sollte hier u. a. die menschliche "Normalbewegung" untersucht und formalisiert werden.

Unter diesen Aspekten kann man auch die Gebärdensprache eines Dirigenten betrachten. Von „Schlagfiguren“ ist da zum Beispiel die Rede, die sich mit der „spontanen Gestik des Dirigenten (die vom Orchester verstanden werden muss) abwechselt“ oder dass „...eine aufsteigende Bewegung (für gewöhnlich mit der Handfläche nach oben) ein crescendo signalisiert“, allerdings „eine Abwärtsbewegung (gewöhnlich mit der Handfläche nach unten) ein diminuendo anzeigt“. Und: „Die Mimik des Dirigenten und seine Körperhaltung bzw. Körperspannung können den gewünschten Ausdruck eines Stückes deutlich machen.“ So ist es in Wikipedia zu lesen.


Musik als Signifikat

Es ist ein genialer Streich, einen Dirigenten und sein Dirigat als Vorlage einer Tanzperformance zu verwenden. Der Dirigent vertieft sich in ein Musikstück - wie ein Schauspieler in seine Rolle. Die Kunst, Information in Echtzeit zu vermitteln, aus gelerntem Wissen eine sich mitteilende Verkörperung entstehen zu lassen, ist die Grundlage der Schauspielerei. Schon Le Roys Auftritt zu Beginn lässt unvermittelt an Peter Brooks' „Der leere Raum“ denken. Wie zur Grundlagenforschung der darstellenden Kunst begegnen sich Akteur, Musik und Zuschauer.

Strawinskys Musik ist ein umfassendes Signifikat, in das Gebärden eingebettet sind. Diese geben Orientierungs- und Koordinierungshilfe für ein imaginäres Ensemble und vermitteln die Erfahrung der Musik.

Die Gesten und Gebärden von Le Roy werden von der Musik geleitet, schöpfen aus ihr, werden von ihr durchdrungen. Im Laufe der musikalischen Entwicklung und Steigerung werden auch sie immer dramatischer und „tänzerischer“. „Tänzerisch“ wäre hier zu verstehen im Sinne eines auf sich selbst reflektierendes Systems, das seine eigene Logik, Differenz und Unterbrechung hervorbringt. Das Verhältnis zwischen der Darstellung des Dirigierens und der Musik bleibt bis auf ein Mal, als Le Roy unerwartet zum Bühnenrand geht und von dort aus stillstehend zuhört, immer gleich. Das Dirigat fungiert wie ein Code. Er wird immer wieder bedient und bestätigt.

Interessanterweise entsteht mittels des konzeptuellen Ansatzes, Posten imaginär umzubesetzen - das Orchester mit dem Publikum, den Dirigenten mit einem Tänzer -, eine eigenartig solide und unerwartet konventionell anmutende Bühnenarbeit. Durch die dramaturgische Entscheidung: „Ich spiele eine Dirigenten“ wird „Ich“ zu „Einem“. In der frontalen Präsentation und der klar zum Publikum ausgerichteten Kommunikation gibt es kaum Unterbrechungen

Das Bewegungsmaterial an sich ist vielschichtig, zuweilen fulminant. Le Roys „Sacre“ ist ein zugängiges, prickelndes Spiel. Es verkleidet sich als leichter Abend, in dem Momente profanen Bühnenzaubers aufblitzen. Nijinsky benützte für sein „Le Sacre du printemps“ die Vorlage eines Rituals, um damit im symbolischen Raum des Theaters „Verdrängtes“ zur Sprache zu bringen.

Was bringt Xavier Le Roy zur Sprache?

Den Tanz und seine Geschichte.