Butō und Verlegenheit
Als „Rebutoh“ gestaltete Boris Charmatz einen Abend mit Gästen im Tanzquartier Wien.
„Ich habe gelernt, ein- und auszuatmen und bin an einem bestimmten Ort groß geworden. Unmöglich, dieses ganz persönliche Erlebnis lehren oder lernen zu wollen.“ - Tatsumi Hijikata
Der Mythos
Butō war ein Paukenschlag, der in Japan den Aufstand der Nachkriegsgeneration ankündigte. Oft definiert als der authentische modern dance Japans, vollzieht er einen spektakulären Bruch mit den rationalen Prinzipien der Moderne. Im Mai 1959 wird der Ankoku-Butō oder Tanz der Dunkelheit von Tatsumi Hijikata in einem Stück von Yukio Mishima mit Eklat aus der Taufe gehoben: Ein Theater der Leidenschaft, das seinen religiösen Ursprung wieder finden will, wie Artaud es dreißig Jahre früher gefordert hatte. Ein Tanztheater, das die starren Regeln der euro-amerikanischen Vorläufer verwirft und wieder anknüpft an die irrationalen und spirituellen Traditionen des eigenen klassischen Theaters. Ein Theater der Improvisation, dass die persönliche Erlebniswelt des Tänzers in den Mittelpunkt stellt, ihn aber als Medium seiner Innenwelt und nicht als Darsteller seines Alltags begreift. Ein „armes Theater“ im Sinne von Grotowski, das den japanischen Körper als sein Objekt und in dessen „dunkler“, metaphysischer Dimension das alte, arme Japan wieder entdeckt. Ein dionysisches Theater der Nacktheit, der Erotik und Sexualität, dessen Ausdrucksskala von meditativer Zartheit bis zur exzessiven Groteske reicht und das sich bisweilen in barockem Überschwang farbenfroh zu entfesseln versteht. Ein magisches Theater im Geist schamanistischer Riten und shintoistischer Volksfeste. Ein traditionelles Theater, das die altjapanische Verbindung von Tanz, Musik und Maske wiederherstellt und sich des buddhistischen Totentanzes aus dem bäuerlichen Japan erinnert. Zugleich war Butō ein Theater des Widerstandes gegen die Vereinnahmung durch eine formierte, macht- und konsumorientierte Gesellschaft. [1]
Die von Boris Charmatz kuratierte Insel im Tanzquartier Wien „...from a piece" folgt Linien, die für die Erarbeitung seines Stücks „La danseuse malade“ mit der französischen Schauspielerin Jeanne Balibar wesentlich waren. „La danseuse malade“ beschäftigt sich mit Texten des Choreografen und Schriftstellers Tatsumi Hijikata, der mit Kazuo Ohno als Begründer des Butō gilt.
Einer der Programmabende gestaltete sich aus der Video-Installation „Tarzan“ von Christelle Lheureux, „Japanese for Beginners / 8 Performative Images“ von Michikazu Matsune, dem Film „Nijuman no borei (200000 phantoms)“ von Jean-Gabriel Périot; einer „Improvisation“ zwischen Boris Charmatz und Ko Murobushi und dem Film „Hosostan“, einer Dokumentation von Hijikatas choreografischem Werk aus 1972.
Charmatz nannte diesen Abend „Rebutoh-evening“.
Rebutoh. Ein Wortspiel, ein wohl durchdachter Charmatz Kalauer, ein Wurf aus Bezügen.
Rebutoh. Eine Wortkreation aus verschiedenen Sprachen.
Sie kann als augenzwinkernde Wiederaufnahme eines gewissen Butō-Booms in der europäischen freien Theaterszene (die freie Tanzszene war gerade erst im Entstehen) der späten achtziger Jahren verstanden werden. Das französische Wort rebuter bedeutet auf Deutsch abstoßen, abschrecken. Ein Fingerzeig zu der Ästhetik der Verzerrung des Butō und vielleicht auch Ausdruck einer Ambivalenz gegenüber seiner großen Expressivität, die so anders ist als die Konzepte und ihre ästhetischen Auswirkungen im europäischen zeitgenössischen Tanz der letzten Jahre.
Rebutoh. Eine Einladung also, den Spuren des Mythos Butō, (der direkt zum Mythos Japan führt) zu folgen.
„Willst du wissen was Wasser ist?“
Der Abend beginnt überraschend mit dem Film „Tarzan“ von Christelle Lheureux, eine 86-minütige Aufnahme ohne Schnitt, die den Darsteller Imai Kentarou zeigt, wie er in einer dschungelartigen Umgebung sitzt, direkt in die Kamera schaut und dem Originalton des Films „Tarzan, der Furchtlose“ (1933) von dem kanadischen Regisseur Robert F. Hill zuhört.
„Tarzan“ ist ein Mythos, auch „der Dschungel“ ein Mythos, eine Projektionsfläche, die den Betrachter des Films von Lheureux in asiatischer Stille anblickt, zurückschaut. Eine verdichtete Reise durch Zeit und Ort. Ein Soundtrack von 1933, montiert zu einem virtuellen Wald in einem Video aus 2004, projiziert im Studio 2 des Tanzquartier Wien im Jahr 2009. Mythische, animalische, virtuelle, projizierte Natur im asiatischem Outfit begrüßt das Publikum auf dem Weg in das benachbarte Studio 3 zu der Performance „Japanese for Beginners / 8 Performative Images“ von Michikazu Matsune.
„Japanese for Beginners“ ist „eine performative Einführung in einige Elemente der japanischen Kultur", wie Matsune selbst im Programmheft schreibt. Der aus Japan stammende und in Wien lebende Künstler hat 22 Personen eingeladen, die als Laien im Feld der darstellenden Kunst, als ExpertInnen aber in der Aneignung japanisch anmutenden Praktiken, auftreten: als Sumō-Ringer; in Koto und Nihon Buyo (dem Spielen eines japanischen Saiteninstruments und dem Tanzen eines japanischen Fächertanzes); der japanischen Schwertkunst Iaido; den Hayakuchikotoba (was so viel wie „Zungenbrecher“ bedeutet), dem Kyūdō, der Kunst des Bogenschießens, dem Animationstanz Hare Hare Yukai (ein von jungen Mädchen getanzter Animationstanz aus einer Anime-Fernsehserie), dem Sushi-Essen und die Arrangementkunst Ikebana, was übersetzt bedeutet, Blumen zum „Leben erwecken“.
Es sind Menschen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlichen Berufen, alle nicht aus Japan kommend. Sie üben ihre Tätigkeit mit großer Achtsamkeit und Konzentration aus. Sie verneigen sich voreinander oder vor dem Objekt mit dem sie aktiv werden.
Egal ob Sumo, Sushi oder Ikebana, hinter den profanen Handlungen scheint die Struktur des Rituellen hindurch, eine andächtige, selbstreferenzielle Konzentration der DarstellerInnen.
Matsune lässt diese performativen Bilder, eines nach dem anderen, wie einen Film ablaufen. Der formale, rituelle Charakter dieses Ablaufs öffnet Fenster in Leben von Menschen, deren Tätigkeiten sich durch Begeisterung, Hingabe und Genauigkeit selbst „performen“. Die einzelnen Persönlichkeiten erlangen eben durch die Ausführung ihrer Handlungen Sichtbarkeit. Eine buddhistische Schulung von Aufmerksamkeit und absichtsloser Selbstbeobachtung oder: „Willst du wissen, was Wasser ist? Trinke es oder springe hinein" (wie ein alter Zen Spruch besagt).
Matsunes Anordnung ist eine Komposition von fein gesetzten Brechungen, in der sich zeitgenössisches Handeln und Tradition als interkulturelle und interdisziplinäre Alltagspraxis kommuniziert.
Und schon sind wir mittendrin zwischen Japan und Postmoderne, zwischen „Zen und der Kunst des Bogenschießens“ dem Klassiker von Eugen Herrigel und „Die Kunst des Handelns“ von Michel de Certeau.
Anmerkung: Das Fehlen einer japanischen Philosophie - also abstrakten, logisch konstruierten Gedankengebäuden - erklärt sich aus der buddhistischen Überlieferung, die dem Land die geistige Basis gegeben hat. Und es gab und gibt analog dazu auch keine Theorie des japanischen Theaters.
Japans klassisches Theater - Nō, Kabuki und Bunraku - beruht auf jahrhundertealten Konventionen und Grundmustern, den so genannten „Kata", die innerhalb weniger Familien von den Vätern an die Söhne weitergegeben werden. Meister ist, wer - nach vollkommener Beherrschung der Muster - diese „Kata" mit seinem individuellen Ausdruck zu durchbrechen und sie damit zu ihrer höchsten künstlerischen Vollendung zu führen weiss. Dieses Nicht-Lehrbare, nur intuitiv Erfahrbare verbindet Butō mit dem klassischen Theater. Gleichzeitig wiederum unterscheidet es sich fundamental von diesem, weil Butō keinerlei Regeln anerkennt. Der einzelne Tänzer und seine persönliche Biografie ist Quelle seiner Kunst - nicht im Sinn individueller Narration, vielmehr universeller Gemeinschaft. Seine Einheit mit der belebten und unbelebten Natur (wie Zen sie lehrt) wird bis zur Entpersönlichung des Künstlers, bis zur Verdinglichung seines Körpers getrieben.
Über das Sammeln geschwächter Körper
Diese Arbeit zeigt ein schlichtes, intensives Gedenken: 600 Fotos des Friedensmahnmals Genbaku Dome aus Hiroshima. Die Blider (von 1914 bis 2006) sind von unterschiedlicher Größe, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen und stammen aus privaten wie öffentlichen Archiven. Sie werden in ruhigem Rhythmus übereinander projiziert und lassen so die Geschichte der 20. Jahrhunderts Revue passieren. Sie katapultieren ihre Betrachter sofort in eine politische Realität, die sich wie feiner weißer Staub über den ganzen Abend legt.
„Ja, die Toten sind meine Lehrer." sagte Hijikata 1985 in Suijakutai no Saishu (übersetzt: Das Sammeln geschwächter Körper), seiner letzten öffentlichen Äußerung über Butō: „Man muss die Toten achten und schätzen. Früher oder später werden auch wir gerufen. Wir müssen die Toten in unsere Nähe holen und mit ihnen zusammen leben.“ [3]
Diese Brücke zwischen Tradition (des zeremoniellen Nō und dem festlichen Kabuki, für welche die Bühne ein Ort mystischer, spiritueller Vorgänge ist, ein Ort für das Erscheinen des Unsichtbaren) und konkreter politischer Ereignisse in der jüngsten Geschichte Japans ist kennzeichnend für Butō. Auch die Erfahrungen der europäischen Moderne spielen eine wesentliche Rolle. Nicht nur der Ausdruckstanz und Modern Dance haben - auf unterschiedliche Weise - unmittelbar zu seiner Entstehung beigetragen, auch die europäische Literatur von Artaud, de Sade, Bataille, Genet und Duras. Seit Beginn der Meiji-Ära (1868 - 1912) hatte sich ein weites kulturelles Umfeld unter dem Einfluss des Westens in Japan entwickelt, das ähnlich wie in Europa durch den Zweiten Weltkrieg eine traumatische Unterbrechung erfuhr.
Irgendwo in einer Unterbrechung, einem Trauma, einem Aufbruch und „im Kampf mit den unsichtbaren Dingen im Körper" [4] treffen einander Boris Charmatz und Ko Murobushi, einer der wichtigsten lebenden Vertreter des Ankoku-Butō. Die spezifischen Ansätze des Butō und seiner formalen Offenheit lassen zwei Männer, unterschiedlicher Herkunft und Alters - Ko Murobushi ist über sechzig - mit Witz und hundertprozentigem „commitment“ körperlich aufeinandertreffen. „You said, you don't like contact improvisation“, sagt Charmatz und wirft sich Murobushi, der seinerseits, als Charmatz versucht, sich in die Bewegungen seiner Butō-Hand zu vertiefen, ruft: „Boris, where are you? What are you doing?“ Es ist eine Improvisation vom feinsten Wildwuchs zwischen Bewegung und Text, Überraschung und Missverständnis. Dabei zerbricht eine Fensterscheibe, und als Abschluss dieser ausgefuchsten Scharlatanerie verschwindet Murobushi mit einem Schwung aus dem Fenster - vor dem freilich eine Leiter platziert ist.
Diese Verlegenheit, die das Gewicht des Lebens zeigt
Den Abschluss des Abends bildete der 16mm Film „Hosostan“ von 1972, der als Zeugnis der symbiotischen Zusammenarbeit zwischen dem Dokumentarfilmer Keifa Oucida und Tatsumi Hijikata gilt. Der Film zeigt Ausschnitte aus dem choreografischen Werk Hijikatas. Es ist ein Zeitdokument und verdeutlicht die Radikalität seiner Ästhetik eindringlich.
Tänzer und Tänzerinnen sind weiß geschminkt. Entweder fast nackt oder in traditionelle, ausladende Kostüme gekleidet, in denen sich ihre Körper verrenken. Geishas mit krummen Beinen in Holzschuhen, die ihre Augen rollen und die Beine spreizen, lassen ihre Körper sich in einer zweidimensionalen Spirale aufrichten und wieder zu Boden sinken, als ob der Wind sie bewegte. Es sind Geister aus allen Zeiten, die da kurz ins Leben tauchen um sich hinzugeben, der Bewegung, dem Aberwitz, der dunklen Komödie. Körper als helle Flammen, die als Schatten zu westlicher, klassischer Musik ihr Unwesen treiben. Eine mächtige, melancholische Groteske, die mit gebogenen Beinen in den Boden stampft.
„Ohne Gedanken ans Leben gibt es keinen Butō. Doch wie fängt man damit an?
Ich fühle mich oft ratlos. Man würde aber das Leben verleugnen, wenn man dieser Ratlosigkeit ausweicht. Ich glaube nämlich fest daran, dass Butō mit eben dieser Verlegenheit beginnt, in der sich das Gewicht des Lebens zeigt", sagte Kazuo Ohno. [5]
Und vielleicht war es diese gewisse Verlegenheit, durch die sich die Körper in „Rebutoh" als Botschaft in ihrer Kultur, ihrer Animalität, ihrer Bewegung vermitteln konnten. Körper als bewegte Zeichen in Bewegung. Subjektiv, kollektiv und hoffentlich immer aufs neue anarchistisch.
Fußnoten
[1] Michael Haerdter und Sumie Kawai (Hg.): Butoh, Die Rebellion des Körpers. Berlin: Alexander Verlag, 1988, S.10. [2] ibidem, S. 42.
[3] ibidem.
[4] ibidem.
[5] ibidem, S. 49.