Tausendundeine Ermittlung in Sachen zeitgenössischer Performance

Oder: "Denken heisst experimentieren, doch das Experiment ist stets das, was sich gerade ereignet.“ im Tanzquartier Wien

Corpus 28 Nov 2009German

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Erinnerung an Worte: "Let's talk about the difference of collaborating with absent or present people." Bilder meiner sterbenden Mutter. Bilder meiner sterbenden Mutter, die vor einigen Tagen, als ich fiebrig im Bett lag, völlig unerwartet und ungekannt aus meinen Körper gestiegen sind. Aus meinen Poren und Fasern, würde ich sagen. Diese Erinnerungen (und nicht meine Mutter) haben, so schien es, nach mir gegriffen. Nicht all zu fest, aber fest genug, um mich aufhorchen zu lassen.

Materialisierung von Vergangenen. (Jonathan Burrows: "What bodies possess you from the past?" Boyan Manchev: "... As I am dealing a lot with concepts of metamorphosis and metamorphic bodies I do think there is a constant possession of bodies happening, which are not fixed ...") Die Halle G im Tanzquartier Wien. Ich sitze auf der meist dunklen Tribüne (Rebecca Schneider: "Would you be able to do your work in total darkness?" La Ribot, nach einer Pause: "I'd like to work with the metaphor of this question.") und folge 7 Stunden lang Fragen und Antworten. Folge einer Spurensuche, einem Versuch, eine Sprache zu finden, die durch performative Praktiken und das Schaffen von Kunst beeinflusst ist. ("Why talk about art?" or: "What is the difference between art and discourse, if any?")

 

Sitting around the fireplace

Die Fragen lösen anfangs in ihrer Direktheit eine Art aufschreckendes Entzücken, ein kopfschüttelndes Lachen aus und erzeugen freudige Neugierde auf das Entfalten der Antwort. Fragen, die sich variieren und wiederholen. Die über die Zeit Vertraute werden. Die sich durch Wiederholung banalisieren und schließlich nach ihren Konzepten und Implikationen hinterfragt werden. Die an die Grenze des Verbalen führen. Wie lange können Worte getauscht werden? Irgendwann (war es nach 3 oder 4 Stunden?) übernehmen die Präsenz der Körper, ihre Gestik, der Rhythmus, die Art und Weise der Antwort, den Dialog.

In your art, are you creating, solving or exhausting problems?

Is art an expression of love and if so, love for what?

If you could do any artwork with as much support as you want and you are paid as much as you like, but no one would ever experience it. – Would you do it?

Tim Etchells und Adrian Heathfield haben für "The Frequently Asked" ein performatives Setting kreiert, eine "lecture demonstration" in Form einer "durational and rule-based performance". Eine Begegnung, um den Prozess von Gedanken hörbar und sichtbar zu machen.

Das Setting ist simple und klar: Jeweils 2 TeilnehmerInnen sitzen sich im vorderen Teil der Bühne gegenüber und stellen einander 30 Minuten lang abwechselnd Fragen, auf die sie (unvorbereitet) antworten. Danach nimmt Tim Etchells oder Adrian Heathfield einen Gedankengang auf und formuliert ihn gegenüber den anderen Anwesenden weiter. Denen, die im Hintergrund an einer Reihe von Tischen sitzen (14 internationale TeilnehmerInnen, die sich aus KünstlerInnen, AutorInnen, KuratorInnen zusammensetzen. Jede von ihnen bildet früher oder später so ein Duett) und denen, die in der Tribüne auf den Stühlen sitzen, lehnen und liegen (Publikum).

Zweitere nehmen dieses Gesprächsangebot nur selten wahr; und doch ist diese einladende, obschon fast diplomatisch anmutende Geste wichtig. Die Tribüne wird jedes Mal leicht beleuchtet. So wird eine gewisse Transparenz des Raumes geschaffen, die über die konventionelle Trennung zwischen Bühnengeschehen und Publikum hinweg hilft.

Im Hintergrund der Bühne hängen zwei Screens. Auf sie werden die Köpfe der jeweiligen GesprächspartnerInnen übertragen. (Bojana Kunst: "What things go beyond language in your work?“ Mathew Goulish: "Just to mention: Our work is in the past, future and presence. And then three things: 1st, silence. 2nd, a body engaged in movement and dance. 3rd, language.") Gesichter auf den Screens. Jede Regung vergrössert. Die Köpfe wackeln hin und her, heben sich auf und ab im gerahmten Videobildraum.

Im Raum vor mir gestikulieren die Körper. Sie wenden sich hin und wieder ab, sinken zu sich, lehnen sich zueinander, nehmen Abstand. Hände umreissen und berühren flüchtig Worte, machen sie greifbar, entlassen sie, greifen ins Leere. Blicke werden getauscht. Ein Tanz: Wechselspiel von Formulierung und Auflösung.

Dieses Regelwerk ist ein Filter, durch den Persönlichkeiten in Erscheinung treten, ohne sich produzieren zu müssen.

 

Explosion

Dauer als veränderliche Essenz der Dinge und Abläufe. ("Can exhaustion have any merit and can it cause change?") Aber es gibt auch andere Tricks, um Änderung zu evozieren. William Pope L. setzt sich eine Maske von Condoleeza Rice auf, und plötzlich ... Plötzlich tritt etwas Brodelndes zum Vorschein, eine Dringlichkeit, eine zusätzliche Frage. "Hoho!" macht die Maske und zeigt auf die Maskerade. Die des Alltags, die der Repräsentationsgesten, die der Gesprächspolitik, die des Settings. "Did you feel the change of temperature?" fragt Tim Etchells nach dem Set. Jemand hat an dem Machwerk gerüttelt. Alle haben es bemerkt. A kind of violence happened. A disruption. Look who is talking. Die interne kritische Auseinandersetzung wird offengelegt. "William did highlight ..."  Etwas wurde in Bewegung gesetzt. Lin Hixson beginnt das nächste Duett mit: "I want to mention I am a North American Citizen. That's where I draw my experiences from."

"Do you think all creative work is collaboration?" ist schlussendlich die Frage, die, nach dem sie ungefähr siebenmal gestellt wurde, in die Luft fliegt. Oder war sie der Sprengstoff?

Janez Janša setzt als Erster den Begriff "collaboration" in politisch-ökonomische Zusammenhänge. Produktionsbedingungen, die Dynamik des neoliberalen Marktes, prekäre Arbeitssituationen. Zerrüttete Anatomie der Worte, paradoxe Ideologien, Vieldeutigkeit.Irit Rogoff sagt: "I don't like the words creative, collaboration.“

Können wir nicht andere Worte verwenden, zum Beispiel "mutuality" (Gegenseitigkeit) oder "interest". Was benennen wir? Was verändert sich, wenn Worte ausgetauscht werden? Verändert sich etwas?

Und wieder: "Where does creativity come from?" Goran Sergej Pristaš: "The passion for the new." Der Kapitalismus klatscht in die Hände. Einige Anwesende runzeln die Stirn. Weiter probieren.

 

Events of notions

"The Frequently Asked" ist eine Gedankenentwicklung, mit ihren Ellipsen, Spiralen, ihrer Erregung und Langeweile. Sie hinterlässt mich wie aus einem Traum, nämlich in Sinnlichkeit, in dem Fragen als Knotenpunkte fungieren. Erinnerung betrachtet sich in ihrer Vielschichtigkeit und unterzieht sich einer Reflexion. Tasten nach Zukunft.

Fragen und Antworten eröffnen ein Feld, in dem sichLinien immer wieder neu treffen, einander begleiten, einen neuen Bogen nehmen, stocken und sich wieder rasant in die Kurve legen. Die Pluralität des Sinns und seine Koexistenzen reichen weit über eine bloße Vielzahl von persönlichen Stellungnahmen hinaus.

What is the place of childhood in your work?

What abandoned practice you want to get back?

What pattern do you repeat? Not from the memory, but from the lack of it?

What is the place of the ordinary in your work?

Und wieder: "Is art by definition political?"

"Why choose performance as a form of art making?" fragt Alastair McLennan. Gesellschaftliche Denkpläne müssen zerdehnt werden, um ihnen Neues einzufügen. Mikrostrukturen müssen untersucht, Zeichen und Begriffe verlängert werden, damit ein anderes Denken, ein anderes Wahrnehmen, ein weiteres Konstruieren von Welt möglich wird. "The Frequently Asked" exerziert diese Prozesse und zeigt eine Destillation. Unterschiedliche Formen von Wissen und ihre Strategien werden zusammen gebracht. Zwischen und trotz all dieser Worte öffnen sich Räume und Möglichkeiten für Begegnung. Diese scheitern auch, aber es geht weiter. Und das ist gut so.

 

"When is life more important than art?"

Nach 6 Stunden setzen sich Rebecca Schneider und La Ribot einander gegenüber. Sie tragen fast identische Kleidung: Schwarzweiß gestreifte Pullover und schwarze Hosen. Peinlich berührt, erstaunt, komplizenhaft. Sie sitzen einander im High Noon des Scheinwerferlichts gegenüber. Zwischen ihnen: Stille. Wer wird als erste eine Frage stellen? Sie schauen einander in die Augen.

Und fragen gleichzeitig: "How would you like to die?"