Eine emanzipatorische Lektüre

Universalität und Intelligenz: Jacques Rancières „Der Unwissende Lehrmeister“

Corpus 17 Dec 2009German

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„Es gibt keine Sprache der Vernunft. Es gibt nur eine Kontrolle der Vernunft über die Intention zu sprechen. Die poetische Sprache, die sich als solche versteht, befindet sich nicht im Widerspruch zur Vernunft. Im Gegenteil, sie erinnert jedes sprechende Subjekt daran, die Erzählung der Abenteuer seines Geistes nicht für die Stimme der Wahrheit zu halten. (…) Zur Perversion kommt es, wenn diese Dichtung sich für etwas anderes als ein Gedicht ausgibt, wenn es sich als Wahrheit durchsetzen will und zur Tat zwingt. Die Rhetorik ist eine pervertierte Poetik.“ [1]


„Der unwissende Lehrmeister – Fünf Lektionen der intellektuellen Emanzipation“ von Jacques Rancière ist ein zeitgeschichtliches Essay über einen Lehrer namens Joseph Jacotot, der im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, inmitten der Umbrüche der französischen Revolution und den darauffolgenden napoleonischen Kriegen eine neue Lehrmethode entwickelt hat: den universellen Unterricht. Diese Methode hat drei Losungen: 1. Alle Menschen haben die gleiche Intelligenz. 2. Alles ist in allem. 3. Der Lehrer vermittelt sein Wissen nicht über Erklärungen. Man kann unterrichten, worin man unwissend ist.

Entstanden ist diese Methode 1818, als Monsieur Jacotot im niederländischen Exil eine Professur übernahm, obwohl er kein Wort niederländisch sprach. Jacotot begann, mit Hilfe des zweisprachigen Telemach von François Fénelon, der gerade veröffentlicht wurde, gemeinsam mit den Studenten die niederländische Version mit Hilfe der französischen Übersetzung zu lesen. Er wies sie an, mit diesem Prinzip fortzufahren, nämlich die Teile, die sie verstünden, immer wieder zu wiederholen und weiter anzuwenden.

Für Jacotot war es ein intellektuelles Experiment im Sinne der Aufklärung. Auch er selbst war erstaunt, was diese Studenten schlussendlich alles über diesen Telemach wiedergeben konnten und welche guten Gedanken sie, davon ausgehend, selbst entwickeln konnten. Bedeutete dies also, dass „also alle Menschen virtuell fähig [waren], zu verstehen, was andere gemacht und verstanden hatten?“ [2]

Rancière folgt den Implikationen dieses Experiments und dessen weitere Entwicklung in Jacotots Leben. Er spricht in Passagen als Jacotot und referiert sprachlich auf den Duktus der Zeit.


Die Ordnung des Erklärens

Die Reflexion ist in einer Zeit angesiedelt, in der sich das gegenwärtige Bildungssystem und Demokratieverständnis entwickelt hat. Sie befasst sich mit Prinzipien, die zu weiten Strecken selbstverständliche Anteile unseres gesellschaftlichem Umgangs miteinander und Wahrnehmung voneinander geworden sind. Rancière seziert die Mythologie unseres Bildungssystems, das darauf beruht, dass es mehr und weniger intelligente Menschen gibt. Die Intelligenteren sind mittels Erklärungen den Zweiteren dabei behilflich, eine Sache, einen Gestand verstehen zu lernen. Warum aber, fragt der Philosoph, sollte jemand vorgetragene Gedankengänge eher verstehen als jene Gedankengänge, die sich bereits im Objekt oder Material manifestiert haben? Was für eine Ordnung performt das Erklären?

„In der Erklärordnung ist allgemein eine mündliche Erklärung nötig, um die schriftliche Erklärung zu erklären. Das setzt voraus, dass die Gedankengänge, wenn sie durch die lebendige Rede des Lehrmeisters vermittelt sind, die sich augenblicklich auflöst, klarer sind, sich besser dem Geist des Schülers einprägen als die im Buch, wo sie für immer in unauslöschlichen Buchstaben geschrieben stehen. Wie soll man dieses paradoxe Privileg der Rede gegenüber der Schrift, des Hörens gegenüber dem Sehen begreifen? Welches Verhältnis besteht also zwischen der Macht der Rede und der des Lehrmeisters? [3]

Man würde eher annehmen, dass die Schrift über das gesagte Wort regiert. Tatsächlich besteht aber seit der Antike eine Vorliebe der Rede gegenüber der Schrift: Der Rhetor, der beredte Lehrer, hielt seine Reden und entwickelte dabei seine Rhetorik. Die Rhetorik war und ist eine Kunstsprache. Ihre strengen Regeln wurden von Gelehrten angewendet, die sich genau durch diese Anwendung der Sprache vom gemeinen Volk unterscheiden wollten. Schon bei den Griechen kamen Rhetoren meist aus angesehenen und reichen Familien und bildeten so eine wirtschaftliche und intellektuelle Elite.


Du kannst es genauso machen

Die Losung „Alle Menschen haben die gleiche Intelligenz“ stürzt als erstes die Rede als Erklärung, als Zeichen höherer Intelligenz vom Podest. Was in Jacotot’s Experiment zur Anwendung kam, ist das, was jedes Kind beim Lernen seiner Muttersprache tut: Beinahe jedes Kind erlernt die Sprache seiner Eltern dadurch, dass sie mit ihm sprechen und dass in seiner Umgebung gesprochen wird. Das Kind entwickelt seine eigene Methodik, es ahmt nach, wiederholt, irrt, hat einen Glückstreffer und entwickelt so seine Fähigkeiten.

Alle großen Männer sind auf diese Art zu großen Männern geworden. Aber niemand kam damals (und auch heute ist es selten) und sagte: So habe ich es gemacht. Du kannst es genauso machen. Die Logik des Erklärens muss also umgedreht werden: „Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt.“ [4] Denn die Unfähigkeit ist strukturierender Bestandteil der Welt der zweigeteilten Intelligenz und des Erklärens.

Die Intelligenz, die für alle Menschen gleich ist, wird von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich angewandt. Die Dichotomie, die Zweiteilung der Intelligenz ist ihrerseits ein stilles Gesetz, ein nicht zu berührendes Tabu und vollzieht den Einschnitt zwischen dem tastenden Tier und dem gebildeten Menschen, dem Gemeinsinn und der Wissenschaft.


„Das Kind, das unter der Drohung von Schlägen stottert, gehorcht der Rute und wird seine Intelligenz zu etwas anderem anwenden. Aber der Kleine, dem erklärt worden ist, wird seine ganze Intelligenz in diese Trauerarbeit investieren: zu verstehen, das heißt zu verstehen, dass er nicht versteht, wenn man ihm nicht erklärt. Er unterwirft sich nicht mehr der Rute, sondern der Hierarchie der Welt der Intelligenzen. Im Übrigen ist er genauso ruhig wie der andere: Wenn es zu schwierig ist, die Lösung des Problems zu suchen, so wird er die Intelligenz haben, große Augen zu machen.“ [5]

Der Schuster wird seine Intelligenz nutzen, um Schuster zu bleiben, und nicht, um eine neue Art von Schuhe zu entwickeln oder z.B. den Telemach zu verstehen.


Konsequenter Materialismus

Das sind tatsächlich abenteuerliche Gedanken. Es bedeutet, dass jede/r diese für alle gleiche Intelligenz innerhalb seiner oder ihrer Fähigkeiten anwendet. Dabei ist zwischen Fähigkeit und Werkzeug zu unterscheiden. Es ist wichtig, gutes Werkzeug zu haben, um seine Fähigkeiten weiterentwickeln zu können. Ein guter Redner ist also nicht per se intelligenter als ein Schuster. Er hat das Werkzeug (Rhetorik), seine Rede gut zu gestalten, wie der Schuster sein Werkzeug hat, um gute Schuhe zu machen.

Die Radikalität, die diesem Gedanken zu Grunde liegt, wird von Rancière konsequent durchleuchtet. Die Vehemenz, mit der er in den ersten drei Kapiteln (1. Ein intellektuelles Abenteuer. 2. Die Lektion des Unwissenden. 3. Die Vernunft der Gleichen.) das revolutionäre Potential protegiert, aufruft, aufzeigt und gesellschaftliche Mythen in Alltagspraktiken übersetzt, wirkt überaus ansteckend.

Lässt man sich erst einmal auf das Spiel der ungleichen Intelligenzen ein, wird man schnell von Begabungen sprechen. Rancière schlägt mit Jacotot allerdings einen anderen Weg vor, nämlich nur davon zu sprechen, was wir sehen, und diese Tatsachen zu benennen, ohne ihnen einen Grund vorzugeben. So kann man sagen: „Ich sehe, dass der Mensch Dinge tut, die andere Tiere nicht machen. Ich nenne diese Tatsache Geist, Intelligenz wie es mir gefällt; ich erkläre nichts, ich gebe dem, was ich sehe, einen Namen.“ [6]

Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Intelligenz und Leistung zu entkoppeln: Die Leistung ist weniger, nicht wegen einer geringeren Intelligenz, sondern weil weniger Arbeit verrichtet wurde oder einer Tätigkeit (aus welchen Gründen auch immer) weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. „Die Aufmerksamkeit ist weder eine Gehirnerhebung noch eine okkulte Eigenschaft. Sie ist eine immaterielle Tatsache ihrem Prinzip nach, aber materiell in ihren Wirkungen: (…).“ [7]

Dem Denken liegt ein konsequenter Materialismus zu Grunde, der sich sozusagen selbst unmittelbar anwendet, das heisst, in dem quasi wirksam wird, was es auf materielle Wesen anwenden kann. Namen zu geben ist so etwas wie eine Behauptung aufzustellen oder eine Meinung zu haben. Eine Meinung zu haben, bedeutet wiederum, einen allgemeinen Eindruck zu haben. Meinungen leiten sich von Tatsachen her, sind aber keine Tatsachen. So vergibt man Namen: zum Beispiel den der Intelligenz.


Intelligenz als spekulativer Begriff

Es gibt keine einheitliche Definition von Intelligenz. Es gibt fast ebenso viele Theorien über sie wie Forscher, die sich mit ihr befassen. Den meisten Theorien ist aber gemeinsam, dass sie Intelligenz als eine Fähigkeit sehen, sich in neuen Situationen durch Einsicht zurechtzufinden oder Aufgaben durch Denken zu lösen. Entscheidend ist aber, dass dies nicht durch Erfahrung, sondern durch das schnelle Erfassen von Beziehungen ermöglicht wird. Mit anderen Worten: Intelligentere haben im allgemeinen schneller den Überblick über ein unbekanntes Gebiet.

Etymologisch kommt der Begriff Intelligenz vom Lateinischen „intelligentia“ (von „inter legere“ = auswählen durch kritische Beachtung der relevanten Merkmale, ein Ding/einen Begriff richtig einordnen). Oft ist Intelligenz auch ein Sammelbegriff für die Fähigkeit des Menschen, zu verstehen, zu abstrahieren, Probleme zu lösen, Wissen anzuwenden und Sprache zu verwenden.

Intelligenz ist also einerseits ein spekulativer Begriff, ein Name für gemeinsame Verhaltensweisen, die man intuitiv mit den sogenannten „geistigen Leistungen“ in Verbindung bringt. Andererseits ist die Teilung der Intelligenz in Ungleichheiten in jedem Fall ein Herrschaftsinstrument, das emanzipatorischen Bestrebungen entgegensteht.

Rancière begleitet Monsieur Jacotot, dessen Leben die intellektuellen Auf- und Umbrüche der Zeit und ihre politischen Auswirkungen von 1818 bis 1830 widerspiegeln. Nachdem er mit seinem intellektuellen Experiment bei den akademischen Autoritäten von Löwen (dem heutigen flämischen Leuven) in Ungnade gefallen war, wurde ihm durch die Unterstützung des niederländischen Prinzen Wilhelm die pädagogische Leitung der militärischen Hochschule anvertraut.

Die Revolutionen in England und Frankreich haben die beratenden Versammlungen wieder aufleben lassen und sich erneut die großen Fragen von Platon und Aristoteles über die Macht des Falschen, die die Macht des Wahren imitiert, gestellt. So untersuchte zum Beispiel Jeremy Bentham, ein englischer Jurist, Philosoph und Sozialreformer dieser Zeit, in seiner „Abhandlung über die parlamentarischen Sophismen“ die verheerende Wirkung von unterschiedlich kostümierten Autoritätsargumenten, mit deren Hilfe die Nutznießer der existierenden Ordnung sich gegen jede fortschrittliche Reform stellen.


Wahrheit entscheidet keinen Konflikt

Die zeitgeschichtliche Auffächerung der intellektuellen Auseinandersetzungen dieser Zeit machen deutlich, wie gerne abenteuerliche Errungenschaften instrumentalisiert werden. Sie gibt dem Text eine zusätzliche Eindringlichkeit und zeigt die Komplexität des Vorhabens und seine weitgreifende Radikalität.

Dabei werden große Begriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit ins Treffen geführt, deren Tatsächlichkeit Rancière jedoch konsequent von der Sprache und ihrer Beherrschung ablöst. Der Begriff der Vernunft verbindet sich mit der Kunst zu Überleben – was einerseits bedeuten kann, sich mit gegebenen Umständen arrangieren zu müssen, andererseits immer wieder daran erinnert, dass Politik und Wahrheit unterschiedlichen Gesetzen folgt.

 

 „Der vernünftige Mensch weiß folglich, dass es keine politische Wissenschaft, keine Politik der Wahrheit gibt. Die Wahrheit entscheidet keinen Konflikt des öffentlichen Raumes. Sie spricht zum Menschen nur in der Einsamkeit seines Gewissens. Sie zieht sich zurück, sobald der Konflikt zwischen zwei Gewissen ausbricht. Wer ihr zu begegnen hofft, muss wissen, dass sie alleine und ohne Begleitung geht. Die politischen Meinungen hingegen fehlen niemals, sich in der beeindruckendsten Begleitung zu zeigen: Brüderlichkeit oder Tod, sagen sie; oder, wenn die anderen an der Reihe sind, Legitimität oder Tod, Oligarchie oder Tod etc.“ [8]

 

Oder: „Es bleibt dem vernünftigen Menschen also nichts anderes übrig, als sich der bürgerlichen Verrücktheit zu unterwerfen und sich zu mühen, dabei seine Vernunft zu bewahren. Die Philosophen glauben, das Mittel dafür gefunden zu haben: Kein passiver Gehorsam, sagen sie, keine Pflichten ohne Rechte! Aber das ist unaufmerksam gesprochen. Es gibt nichts und es wird niemals etwas geben, was die Idee des Rechts in der Idee der Pflicht impliziert. Wer sich veräußert, veräußert sich absolut. Dabei eine Gegenleistung einzufordern, ist nur eine arme List der Eitelkeit, die keine andere Wirkung hat, als die Entfremdung zu rationalisieren und vor allem denjenigen zu betreffen, der sich darin seinen Teil zu reservieren anmaßt. Der vernünftige Mensch wird sich nicht zu solchen Schummeleien hergeben. Er wird wissen, dass die gesellschaftliche Ordnung ihm nichts Besseres zu bieten hat als die Überlegenheit der Ordnung über die Unordnung.“ [9]

Die Genauigkeit der geschichtlichen Betrachtung legt freilich auch gewisse Paradoxien frei. Man versteht durchaus die Bemühungen, das große, zu begrüßende emanzipatorische Projekt des universellen Unterrichts als soziale Methode anzuwenden. Gerne lässt man sich anregen, über eine Gesellschaft von Emanzipierten zu träumen, die, so Rancière, eine Gesellschaft von Künstlern wäre.

„Die emanzipatorische Lektion des Künstlers, Stück für Stück der verdummenden Lektion des Professors entgegengesetzt, ist diese: Jeder von uns ist Künstler in dem Maße, als er eine zweifache Vorgangsweise wählt; er begnügt sich nicht damit, Mensch eines Berufes zu sein, sondern er will aus jeder Arbeit ein Ausdrucksmittel machen; er begnügt sich nicht damit zu fühlen, sondern er versucht, das Gefühlte mit anderen zu teilen. Der Künstler braucht die Gleichheit, wie der Erklärende die Ungleichheit braucht.“ [10]

Weil der Erklärende die Ungleichheit braucht, wird keine Regierung, keine Armee, keine Schule, keine Institution jemals einen einzigen emanzipierten Menschen hervorbringen. Sobald der universelle Unterricht Teil der Programme von reformatorischen oder revolutionären Parteien ist, wird er verdorben. Er kann sich niemals auf die Herstellung einer bestimmten Kategorie von gesellschaftlichen Akteuren spezialisieren. Nur ein Mensch kann einen Menschen emanzipieren. Oder, mit Marx gesprochen: „Nur ein emanzipierter Mensch kann einen Menschen emanzipieren.“

„Der universelle Unterricht wird sich in der Gesellschaft nicht durchsetzen, wird sich nicht etablieren. Aber er wird auch nicht untergehen, weil er die natürliche Methode des menschlichen Geistes ist, diejenige all derer, die selbst ihren Weg suchen.“ [11] Das gibt Jacotot seinen Studenten mit, als er von der Militärhochschule verwiesen wird und das Scheitern eines politischen Projekts des universellen Unterrichts im letzten Drittel des Buches vorgeführt wird. Es sind auch die letzten Zeilen des Buchs, die sich so noch einmal in der heutigen Aktualität von Bildungskrise, Wirtschaftskrise und Migration, als Zuruf und Appell an die Gleichheit und ihre Anwendung in der Gegenwart festmachen.

 

Fußnoten:
[1] Jacques Rancière: Der unwissende Lehrmeister – Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien: Passagen Verlag 2007, S. 101f.
[2] ibid. S. 12.
[3] ibid. S.15.[4] ibid. S.16
[5] ibid. S.18.
[6] ibid. S. 64.
[7] ibid. S. 65.
[8] ibid. S.108.
[9] ibid. S.109.
[10] ibid. S.88.
[11] ibid. S.124.