L’informel und la différance
Ein Gespräch mit dem Wiener Choreografen Philipp Gehmacher
„Das ästhetische Regime der Kunst ist auch die Geschichte dieser Namen, die sich ,enteignen‘: Die Malerei ist nicht nur eine Kunst im Sinne eines geteilten praktischen Wissens davon wie Werke, die man Bilder nennt, hergestellt werden, es ist die Idee der Kraft des Sichtbaren und der Mutationen seines Bezugs zur Ordnung der Bedeutungen. Das Kino oder die Photographie sind Ideen des Lichts und der Bewegung als Erzeugung eines neuen politischen Milieus; der Tanz ist eine Idee der Leistungen der Kunstzu den Einstellungen der Gemeinschaft usw. Ich arbeite zur Zeit an einer Geschichte des ästhetischen Regimes der Kunst, die genau das wäre: nicht eine Geschichte der Kunst oder der Künste, sondern eine Geschichte der ästhetischen Singularitäten.“ [1]
corpus: „Formless – A User‘s Guide“ ist ein Katalog von Rosalind Krauss und Yves-Alain Bois zu einer von ihnen kuratierten Ausstellung im Centre Pompidou von 1996. Du hast einmal gesagt, dass dieses Buch sehr wichtig für dich war.
Gehmacher: Ja, das stimmt. Ich bin in meiner Studienzeit in London einmal zufällig im Buchladendes Institute of Contemporary Art darauf gestoßen. Rosalind Krauss und Yves-Alain Bois beziehen sich auf den Begriff des „informe“ von dem französischen Philosophen George Bataille und setzen ihn in Beziehung zur Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Arbeiten von Künstlern wie Gordon Matta-Clark, Cindy Sherman oder auch Man Ray werden anhand der Idee des „informe“ besprochen. Mich hat es auch fasziniert, dass sie die Idee des Lexikons von Bataille für diesen Katalog angewendet haben.
corpus: Rosalind Krauss und Yves-Alain Bois beschäftigen sich mit vier Grundkategorien: Base, Materialism, Horizontality, Pulse, Entropie, mit deren Hilfe sie in gewisser Weise ein Gegenmodell zu den ästhetischen Postulaten der Moderne formulieren. Diese vier Kategorien spalten sich dann in weitere sechs Begriffe auf, die einer alphabetischen Ordnung folgen. In einer Besprechung wurde einmal gesagt, das Buch wäre nach einer amüsanten „gebrochenen“ Logik aufgebaut. In gewisser Weise ist das wie die Beschreibung einer künstlerischen Arbeit oder wie ein Ergebnis einer künstlerischen Vorgehensweise.
Gehmacher: Mich hat das ewige Paar Form und Inhalt ursprünglich sehr fasziniert, und daraus haben sich aber sehr bald – im Sinne von Derrida und „la différance" – unterschiedliche Differenzierungen entwickelt. Während meiner Collegezeit war mir das natürlich nicht so bewusst. Aber die Idee der Verschiebung, des „sliding moment“, war immer schon essentiell in meiner Arbeit. Es gibt keine perfekte Kausalität und somit keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Form und Inhalt.
Ich glaube, in der darstellenden Kunst, im „Darstellerischen“, werden viele unterschiedliche Ebenen, viele unterschiedliche Register angesprochen. Es ist gar nicht so leicht, dieses Gefüge der Performance, des Ereignisses, auseinanderzunehmen. Von der Bewegung her kommend, wollte ich eine Körperlichkeit finden, in der sich Aktion und Bewegung verbinden, wie eine gewisse Grammatik mit einer Syntax. Ich wollte eine Art von Gefüge bilden, dass sich in einer bestimmten Formlosigkeit ständig versucht neu zu formen. Das war von Anfang an wichtig bei meiner Arbeit.
Heute interessieren mich Arbeiten, bei denen gewisse formale Entscheidungen, ein gewisses Ereignis oder Erlebnis auslösen. Ich glaube das sind Arbeiten, die konventionelle Erzählformen und Strukturen verlassen. Ich frage mich dann immer, wie die Prozesse laufen und wie Entscheidungsfindungen entstehen.
corpus: Der Begriff des Materials bezeichnet bei Bataille ja unbändige Heterogenität. Das Material ist unzähmbar. Ich finde das im Bezug auf Tanz und Choreografie sehr interessant. Ich verstehe es als Vorschlag, den Körper nicht primär zu disziplinieren und zu kontrollieren, um einem System, einer Idee oder Form zu dienen und sie zu erfüllen – sondern den Körper, als (menschliches) Material, in einen Zusammenhang, in ein Reaktionsgefüge zu bringen, dessen Grenzen fliessend und durchlässig sind.
In deiner Arbeit kommt eine Körperlichkeit zum Einsatz, in der etwas sichtbar und erfahrbar wird, das nicht oft in Erscheinung tritt. Es ist, als ob die Bewegung über die Ränder ihrer fixen Form tritt.
Das Verschieben von Haltungen, Positionen und Gesten
Gehmacher: In meiner Arbeit the fault lines mit Meg Stuart und Vladimir Miller gibt es einen Teil, den ich „on all fours“ nenne. Ich durchwandere darin verschiedene Zustände. Dieser Teil hat übrigens eine gewisse Verwandtschaft mit einer meiner früheren Arbeiten, good enough. Da könnte ich sagen, dass etwas aufbricht. Es geht um etwas Formloses, aber es ist immer noch strukturell. In gewisser Weise, ist dieses „on all fours“ sehr technisch. Ich versuche unter anderem über Ansätze eines „felt sense“ (körperliche Wahrnehmung einer Situation; Anm d. R.) oder Proprioception (Eigenwahrnehmung des Körpers; Anm. d. R.) einen Zustand als Situation auszuloten und gleichzeitig gewisse Vorstellungen von Haltungen, Gesten und Aktionen mit diesen Zuständen zu verbinden.
Was ist ein Zustand, eine Aktion, ein Zeichen, ein Abbild oder Symbol? Haltungen, Positionen, Gesten, Entspannung und Anspannungen verschieben sich ständig. Gleichzeitig ist es ein Zustand, und es ist gar nicht so einfach zu verstehen, was da zu sehen ist. Es ist formal und zugleich theatral.
corpus: Der Begriff des Informel kommt ja von der Bildenden Kunst, als Zusammenfassung von bestimmten, unterschiedlichen abstrakten Kunstrichtungen in der Nachkriegszeit. Ist die Auseinandersetzung mit diesem Begriff auch eine Möglichkeit, dein Interesse für bildende Kunst und dem Theater zu verhandeln?
Ich beziehe mich mit dieser Frage auf das erzählerische Moment deiner Arbeit, das sich in der Strukturierung und im Umgang mit dem physischen Material äussert und auch zum Beispiel in der Arbeit mit Zuständen, wie du es vorher beschrieben hast. Zugleich verwendest du ja auch immer wieder sprachliche Elemente. Auditive Einspielungen von Szenen aus Filmen, wie etwa in mountains are mountains, incubator und like there is no tomorrow. In einer – früheren – Zusammenarbeit mit Meg Stuart, MAYBE FOREVER, sprichst du auf der Bühne. Auch in deinem jüngsten Stück, in their name, wird auf der Bühne gesprochen. Das Set von Vladimir Miller ist eine Art Landschaft, deren Elemente sich eher mit der Imagination des Betrachters verbinden, als dass sie etwas Konkretes vorgeben. Das gilt auch für die Kostüme von Stéphanie Zani. Vor allem durch den Kostümwechsel taucht plötzlich, wie in einem Traum, eine Art fiktive Spiegelung auf.
Gehmacher: Heute habe ich sicherlich den Anspruch, Ansätze aus der bildenden Kunst und aus dem Theater zu verbinden, vielleicht aber eher im Sinne der Präsentation, des Formats. Aber es stimmt: ich versuche mich immer mehr der sequenziellen Logik einer Erzählung zu entziehen, das Stück wird zum Objekt. Und doch gibt es mehr „lesbaren“ Inhalt. In in their name ist es jedoch schon fast eigenartig, wie ich die einzelnen Teile zusammenwebe, die im ersten Moment vielleicht gar nicht „dramaturgisch im Sinne des Theaters“ zusammenzupassen scheinen. Ich habe mir viel Freiheit gegeben und versucht, so intuitiv wie möglich an Szenen heranzukommen. Ich brauche allerdings sehr lange, um meine Inhalte herauszuarbeiten.
Im Umgang mit einem emotionalen Inhalt, in der Reibung einer Empfindung, in der Formung eines Zeichens, spiegelt sich eine gewisse Reibung mit der Gesellschaft, die ich empfinde. Denn ich frage mich selbst des Öfteren, ob ich tatsächlich Teil dieser Gesellschaft bin? Dieser Gesellschaft, die sich darauf einigt, mit bestimmten Dingen auf eine bestimmte Art umzugehen, auf eine bestimmte Art zu lesen. Wie kann ich diese Vorgänge verstehen lernen und einen Umgang mit ihnen entwickeln? Früher war ich manchmal irritiert, weil manche Leute fanden, dass ich Dinge zu konkret umsetzte. Warum ist das so? Welcher Stil, Geschmack, Ästhetik wird da erwartet? Was für eine Form der Konzeptualität ist da gefragt? Ich spreche hier von einer Vorstellung des Zu-konkreten gegenüber meiner reduziert oder abstrakt wahrgenommen Arbeit. Ich wusste und weiß, dass da Inhalte lauern, die oft pathetisch zum Vorschein kamen, da, wenn ich sie aus den Händen gebe oder in einem Tonfragment suche, nicht immer „meine Verfremdung“ vorhanden ist. Diese Arbeit hört allerdings nie auf. Darin bin ich immer zwei: der, der aus sich heraus formen und mit Lesbarkeit spielen kann, und der, der das Aussen, die Umwelt verstehen und verarbeitet in die Stücke mit einbeziehen möchte.
Im Lauf meiner Arbeit werden mir bestimmte Inhalte immer bewusster, Themen wie Zweisamkeit kommen immer wieder und sind wichtig. Ich mache zwar kein „großes politisches“ Theater, aber es geht mir immer um das Dasein, um den Anderen, um die Anderen, um den Blick in die Welt. Da geht es dann auch um die Frage, ob man der ist, der man zu sein glaubt, bzw. der Körper ist, der eben doch mehrere Körper in sich trägt.
„Wenn Tanz Geste ist, dann indes nur, weil er nichts anderes ist die Austragung und Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen. Die Geste ist Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità] das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem. Sie lässt das In-einem-Medium-sein [l'essere-in-un-medio] des Menschen erscheinen und öffnet ihm auf diese Weise eine ethische Dimension." [2]
Was passiert in der Rezeption?
corpus: Wobei das Formlose ja eine kritische Position in sich ist. Bataille hat sich expliziert den Rändern gewidmet, dem Ausgegrenzten. Ich verstehe es auch als einen Versuch, sich dem „Thematisieren“, dem „Sprechen über“ zu entziehen. Es geht um eine bestimmte Komplexität, eine Mehrdeutigkeit, die vielleicht auch eine sogenannte Unverständlichkeit mit sich bringt. Man könnte auch sagen, eine genauere Auseinandersetzung fordert. Zugleich ist es auch eine Haltung, darauf zu bestehen, dass nicht alle Erfahrungen in vertrauten, gängigen Formen zu fassen sind. Und das ist gut so, denn wenn du etwas fassen kannst, kannst du es instrumentalisieren. Formulierungen folgen ja auch bestimmten Ordnungssystemen.
Gehmacher: Die große, spannende Frage des Formlosen ist: Was passiert in der Rezeption? Ich bin sehr an einer gewissen Offenheit interessiert, deswegen kann man aber nicht alles aufgeben. Ich bin daran interessiert einen Umgang mit den Rezipienten zu finden.
Ich habe im März 2011 im Brüsseler Kaaitheater eine neue Serie von walk + talk gemacht und manchmal den Eindruck gewonnen, dass das Format in sich schon politisch ist. Man stellt sich alleine vor dieses Publikum. Man geht in den Raum und versucht in der besten Art und Weise, den Blick auf sich zu akzeptieren und ihn anzunehmen. Dieses „sich aussetzen" ist an sich manchmal schon sehr brisant.
corpus: Meinst Du „sich aussetzen“ als etwas anderes als zum Beispiel eine Rolle zu spielen, eine Identität anzunehmen? Sprichst Du von „sich preisgeben“?
Gehmacher: Ja, natürlich spielt man immer, und zugleich spielt man nicht. Diese Uneindeutigkeiten und Überlagerungen finde ich wesentlich. Es wäre spannend, das Verhältnis des Formlosen zum Diskurs einmal näher zu betrachten. Denn man muss das Dazwischen wahnsinnig stark behaupten, damit es wahrgenommen wird. Es ist dieses alte Thema: es ist leichter, über etwas zu sprechen, als etwas zu besprechen, das abstrakter ist. Diese Gefüge sind nicht so leicht zu fassen.
Manchmal habe ich das Gefühl, je älter ich werde, um so träumerischer werde ich. Man lernt, dass man gewisse Dinge wahrnimmt und ist sich der eigenen Wahrnehmung bewusster. In gewisser Weise wird der Abstand zu dem, was in Sprache zu fassen ist, immer größer. Man erfährt, dass es nicht immer etwas bringt, Dinge in Sprache zu fassen.
corpus: Zugleich leben wir in einer Zeit, in der sehr viel über Sprache und visuelle Schablonen kommuniziert wird.
Philipp Gehmacher: Ich glaube, jede Zeit hat ihr Schattenformloses. Wir wissen, wogegen sich Bataille aufgelehnt hat. Was wäre das Formlose heute? Ich bin an einer Kunst interessiert, die eine gewisse Komplexität erreicht. Das ist viel Arbeit. Es gibt so viel unterschiedlich Verwobenes. Mediales und Nichtmediales, Virtuelles und Nichtvirtuelles sind nicht mehr so einfach von einander zu trennen. Trotzdem werden in manchen Arbeiten bestimmte Referenzen – aus Wissenschaft und ästhetischen Praktiken zum Beispiel – zusammengemischt, sodass verschiedene Sphären entstehen können.
Was für eine Arbeit entsteht, wenn sich verschiedene Stränge verbinden? Entscheidungen haben immer eine Resonanz von Darstellungsformen aus unserer momentanen und aus einer anderen Zeit. Das meine ich, wenn ich sage, auch unsere Zeit hat ein formloses Schattendasein. Es gibt Körper, die in unterschiedlichen Sprachen sprechen und unterschiedliche Stimmen haben. Wie zum Beispiel in der Arbeit des Nature Theatre of Oklahoma oder bei Theatercombinat. Ich finde es immer spannend, wenn Leute neue Formen finden oder neue Verbindungen. Wenn ich an das Formlose denke, stelle ich mir immer Wucherungen vor. Ich glaube, in der freien Szene hat diese Auseinandersetzung mit Meg Stuart begonnen. In ihren Arbeiten erscheint eines nach dem anderen und erklärt sich nicht vollständig.
Form und Umgang mit Ressourcen.
corpus: Das interessante am Körper ist, dass er so begrifflich ist in seiner Präsenz und sich zugleich jeder Begrifflichkeit entzieht. Das ist auch das Interessante und Brisante am Tanz, würde ich sagen. Meg Stuart war sicherlich eine der Ersten, die diese körperliche Vielstimmigkeit und Differenzen in den Vordergrund gebracht hat und diese Ansätze und Methoden sehr weit getrieben beziehungsweise entwickelt hat.
Gehmacher: Ich glaube, zur Zeit findet auch eine ziemliche Veränderung unserer Vorstellungen von Welt statt. Somit verändert sich vielleicht auch das, was wir unter Form verstehen. Es stellt sich immer mehr die Frage nach den Ressourcen, oder was eine Ressource ist, was materiell oder immateriell, organisch oder anorganisch ist. Alle lesen Bruno Latour… Ich glaube, durch die Fragen der Ökologie verbindet sich Naturwissenschaftliches noch einmal anders mit Kultur. Kultur steht nicht nur im Verhältnis zur Geschichte, sondern spiegelt sich auch im Umgang mit Ressourcen.
Es ist interessant, dass Jan Ritsema in einem Text über Xavier Le Roys Stück low pieces von einer „intelligence of a plant“ schreibt. Vielleicht kommen wir in eine Zeit, in der wir unserer Umwelt mehr Intelligenz zusprechen und diese auch als Ressource verstehen. Eine Art von Wesenhaftigkeit, die wir ernst nehmen wollen und die wir in uns verstehen. Ich glaube, so etwas löst in weiterer Konsequenz andere künstlerische Formen und Formverhalten aus.
Es scheint, als wäre das Formlose angekommen, nur können wir es nicht greifen, weil wir eben auch Teil davon geworden sind. Das Formlose ist eben auch nicht sichtbar, und nach Bataille doch am besten als eine Operation, als Funktion zu gebrauchen.
Fußnoten:
[1] Jacques Rancière, Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve 2008, S 70.
[2] Giorgio Agamben, Mittel ohne Zweck. Freiburg / Berlin: Diaphanes 2001, S 60.