Tanzabend allerseits
Daß uns „Big Brother“ beobachtet, war für George Orwell noch eine negative Utopie, für den Fernsehzuschauer von heute ist es Unterhaltung. Shows wie „Big Brother“, in denen das Private öffentlich und das Leben zum Spektakel wird, sind dabei lediglich ein Symptom einer viel weitreichenderen Umwälzung bedingt durch die neue Medientechnologie, die die Grenze zwischen einem beschützten Innenraum des Ichs und dem gesellschaftlichen Außen immer mehr verwischt. Ebenso wie der Computer Körperbilder bruchlos ineinander gleiten lassen kann, lockern sich die Grenzen zwischen Symbolischem und Realem, zwischen dem, was das Ich tatsächlich erlebt habe und dem, was durch Film und Fernsehen verarbeitet dem Ich als „eigenes“ zurückgegeben wird.
In ihrem letzten Großprojekt „Highway 101“ hat die in Brüssel ansässige Choreographin und Tänzerin Meg Stuart ihren Körper übergangslos in verschiedene Formen gemorpht als gebe es keine Materie mehr, keinen Widerstand des Fleisches. Sie hat mit Überwachungskameras gearbeitet und die Auflösung des Ichs im Zwischenbereich von Innen und Außen zu ihrem Thema gemacht. Wie kaum eine andere Choreographin hat Meg Stuart den Finger am Puls der Zeit, greift sie Veränderungen in unseren Wahrnehmungsweisen auf, um sie mit dem Körper zu brechen und zu reflektieren. Nicht selten erscheinen ihre Körperbilder dabei ebenso fragmentiert wie gesprungene Spiegelbilder.
In ihrem neuesten Stück „Alibi“, das nun am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde, mit dem sie und ihre Gruppe Damaged Goods seit dieser Spielzeit kooperieren, greift Meg Stuart diese Entleerung des Ich auf und stellt sie mit all ihren Folgen aus. Anna Viebrock hat die turnhallenartige Box im Theater im Schiffsbau auf den ersten Blick nahezu unbearbeitet gelassen. Erst bei genauerem Hinsehen entfaltet der Raum seine typisch Viebrocksche Perfidie. Das alte Sofa, das hinten an der Wand steht, ist auf der einen Seite angekokelt. Die Steckdosen stammen aus einer längst vergangenen Zeit der Elektroindustrie. Hoch über den Köpfen der Tänzer, da wo niemand ohne weiteres herankommt, hat sie eine Reihe von Metallablagen angebracht, auf denen alte Kleidungsstücke, ein Basketball und ein Radio herumliegen, während ein paar Handschellen, die niemand benutzt, an einer Stange baumeln. Im Laufe des Abends wird sich eine Tänzerin immer wieder in die Ablagen hineinzwängen wie ein verschnürtes Paket. Auf die rechten Bühnenseite hat Anna Viebrock einen Kasten gestellt, der Assoziationen zu Sportkommentatorenkabinen ebenso zuläßt wie er an polizeiliche Verhörzimmer erinnert. Mit dieser Box in der Box entfaltet das Stück seine Dynamik zwischen Beobachten und beobachtet Werden, Überwachen und Strafen. Als seien die Glasfenster in der Tat verspiegelt und von außen nicht einsehbar, verharren einzelne Tänzer für Minuten regungslos vor den Scheiben, während sie jemand von Innen anstarrt. Befehle dringen aus dem Inneren der Box nach draußen, übertragen von vier antiquarischen megaphonartigen Lautsprechern, als überwachten unsichtbare Augen die Szene.
Zu beginn des Abends drücken sich die drei Tänzerinnen und vier Tänzer an den Wänden entlang, bevor sie alle in der Mitte des Raumes zusammenkommen, um sich zu einem Stern, dessen Zentrum ihre Köpfe bilden, auf den Boden zu legen. Sie Gröhlen, stimmen Schlachtrufe an und Lachen. Blitzschnell drehen sie ihre Hüften, kippen ihre Beine zur anderen Seite als gehörten sie nicht zu ihrem Körper. Langsam zieht sich die Gruppe von Fans und Schlachtenbummlern nach oben, löst sich in einzelne Duos auf, die sich in der Weite des Raumes verteilen. Ein Körper wird von einem anderen gestützt, bis die Szene in eine wüste Prügelei ausartet.
„Alibi“ zeigt Körper außer sich, wo Meg Stuarts Körper früher nie ganz bei sich waren. Im permanenten Ausnahmezustand ringen und raufen, springen und laufen ihre sieben Tänzer versprengt durch den Raum wie scharfe Projektile. Psychologische Motivation hat die Choreographin bei ihrer Bewegungsfindung noch nie interessiert. Stets geht es ihr um den körperlichen Fallout, den nicht vergesellschafteten Rest, der sich in nervösen Tics, physischen Deformationen und Erinnerungen äußert, die vom Körper beim Durchqueren des Raums unweigerlich Besitz ergreifen. Vor allem in den Gruppensequenzen wirken die Bewegungen in „Alibi“ illustrativ. Aggression als Folge jener Entleerung des Ich wird bis zur physischen Erschöpfung bebildert. Die gewaltige und gewalttätige Energie der Tänzer verpufft so im Raum, ohne daß Meg Stuarts Körperbilder ihre suggestive Faszination entfalten könnten. Paul Lemp hat dazu einen Soundtrack komponiert, dessen schiere Lautstärke die Zuschauer ihrerseits zur physischen Erschöpfung treibt. Zwischen die aggressiv dröhnenden Bässe, die knackenden elektronischen Klänge, die sich wie Zustände ausbreiten, und die hektischen sich überschlagenden Rhythmen mischen sich zerrissene, wild auffahrende Streicher, die sich zum Schluß in einer Melodie beruhigen und als kleiner Hoffnungsschimmer die ersterbende Szene wärmen.
Die einzelnen feinen Soli dagegen kommen dem Thema auf hintergründigere und verstörendere Weise auf die Spur. Ein Tänzer sitzt an einem der beiden abgeblätterten Schreibtische auf der linken Bühneseite und erzählt davon, wie niemand sich an sein Gesicht erinnern wird. Gleichzeitig sehen wir sein Gesicht in Großaufnahme auf einem Video, doch seine Stimme kommt elektronisch verstärkt aus dem Inneren der Box. Sie wird von jemand anderem souffliert als sei sein Ich in der Tat nur eine Durchgangsstation für ihm Fremdes. Langsam durchquert er den Raum, macht kleine, fahrige Gesten, stets kurz vor dem Erlöschen und verschwindet in der Box. Durch die Videos von Chris Kondek, der lange mit der New Yorker Wooster Group zusammen gearbeitet hat, öffnet sich der Raum. Er verlängert sich in wacklige zitternde Innenräume oder in unwirtliche Straßenschluchten. Hier entfaltet der Titel „Alibi“ seine volle Bedeutung: an einem anderen Ort sein, nicht hier sein oder auch: nicht dort gewesen sein.
Gleichzeitig sind die Tänzer nur Alibis für uns, unsere Stellvertreter an jenem anderen Ort der Bühne. Davis Freeman, der sich für kleine Verschnaufpausen immer wieder zwischen den Zuschauern niederläßt, zählt all die Dinge auf, denen er sich schuldig gemacht hat, während hinter ihm ein Bild mit der Leuchtschrift „Alibi“ an die Wand geworfen wird. Je mehr Dinge er aufzählt, um so klarer wird auch, daß er uns damit nur den Ball zuspielt und an unsere eigenen kleinen Vergehen appelliert. Auch Simone Aughterlony spricht uns direkt an. Sie preist die Qualitäten der Tänzer und Tänzerinnen an, als wolle sie sie auf einem Sklavenmarkt verkaufen, bis ihre witzige Versteigerung als letzter Versuch, menschliche Nähe und Zuneigung zu erlangen, immer beklemmendere und verzweifeltere Züge annimmt. Im Gebrauch von Texten, die zum Teil der Gruppe selbst, zum Teil von Katherine Jones und David Wojnarowicz und zum Teil von Tim Etchells, dem Kopf der britischen Theatergruppe Forced Entertainment, stammen, geht Meg Stuart mit „Alibi“ über ihre bisherigen Arbeiten hinaus.
Am Schluß erzählt der Schauspieler Thomas Wodianka davon, wie er nur noch eine Fotokopie seines eigenen Ichs sei. Dann beginnt er hysterisch zu lachen. Beinahe unmerklich fangen die Tänzer (neben den bereits genannten: Joséphine Evrard, Andreas Müller, Vania Rovisco und Valéry Volf) um ihn herum an, zu zittern, bis der Tremor ihre ganzen Körper erbeben läßt. Minutenlang schütteln sie sich in einer unglaublich starken Szene, jeder für sich und jeder auf seine eigene Art und Weise. Und doch sind sie hier zum ersten Mal vereint in einem letzten Aufbäumen ihrer Körper gegen ihr Verschwinden.