Das Forschungslabor auf der Bühne

Hygiene Heute zeigt "Physik" im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 18 Jan 2003German

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Daß das Theater ein Experimentierfeld für verschiedenste Materialien vom Klang über die Sprache bis hin zum Bild ist, wissen wir seit den Avantgarden. Was unterscheidet es dann aber noch von den Experimenten, die Naturwissenschaftler in ihren Laboren durchführen? Wenn Theater ein Forschungslabor ist, warum kann man nicht umgekehrt die Versuche im Forschungslabor auf die Bühne bringen? So jedenfalls lautet die Hypothese der Gruppe Hygiene Heute, die sie in ihrem Stück „Physik“ aufstellt und im Feldversuch vor Publikum verifizieren will. Schon in der Renaissance hießen die Vorlesungssäle, in denen coram publico Leichen seziert wurden, Theater, und spätestens seit der Unschärferelation von Heisenberg wissen wir, daß der Standpunkt des Betrachters den Versuch beeinflußt und jede angestrebte Objektivität zumindest zum Problem macht. Das Theater, das in jüngster Zeit wieder des öfteren mit einer Leiche verglichen wird, schafft ein Modell der Welt. Nichts anderes sind die Modellversuche der Physik, die Grundgesetzte unserer Lebenswelt in Versuchen darstellen.

Schon vergangenen August hatten Stefan Kaegi und Bernd Ernst, die beiden Masterminds hinter dem Label „Hygiene Heute“, eine Arbeitsversion ihrer „Physik“ im Mousonturm gezeigt. Agierten damals noch „echte“ Physiker vom Frankfurter physikalischen Institut der Universität zwischen ihren Apparaturen auf der Bühne, werden sie in der fertigen Fassung, die noch heute Abend im Mousonturm zu sehen ist, von den beiden österreichischen Darstellern Karl Bruckschwaiger und Amadeus Kronheim vertreten. Diese sehen in ihren braunen Schuhen, unmodischen Hosen und Hemden zwar aus, als kämen sie aus dem Hörsaal, sind jedoch das Spielen auf anderen Bühnen gewohnt. Kaegi und Ernst nehmen zwar ein Stück Leben, überhöhen es aber nach den Gesetzen des Theaters. Mit sicherem Gespür für Rhythmus und Timing schaffen es die beiden, aus einer Ansammlung von Experimenten einen unterhaltsamen Abend zu machen.

In regelmäßigen Abständen tritt der große schmale Kronheim vor ein Mikrophon und erzählt die Geschichte von Jan Hendrik Schön, der mit gefälschten Meßergebnissen Karriere machen konnte, weil er aus dem richtigen „Stall“ kam. Umgekehrt sind die fiktiven Vorstellungswelten schon immer Bestandteil der „realen“ Welt, wenn etwa die Physiker vom „beamen“ sprechen, woraufhin die bekannte Titelmusik der Fernseh- und Kinofilmreihe „Raumschiff Enterprise“ erklingt, der hier „die Abenteuer des Raumschiffs Grundlagenforschung“ beschwört.

Ein Zeppelin dreht einen Kreis über dem Zuschauerraum, wo er Konfetti abwirft, bevor er zur sicheren Landung auf zwei Stangen an die Bühnenrückwand manövriert wird. Ein Chaospendel überschlägt sich im Hintergrund, und zwei Rohre mit Gittereinsatz werden über einer Flamme erhitzt, woraufhin die Luft in ihnen zu pfeifen beginnt. Während die beiden zu Beginn zwanzig Hypothesen aufstellen, baut Kronheim mit Pappkartons zwei Türme. Ein kleines Faß, das von den Schwingungen eines eingebauten Lautsprechers in Bewegung versetzt wird und über den Boden rutscht, rammt den einen Turm, der prompt einstürzt. Die beiden demonstrieren mit ausladendem Hüftschwung Reibungsgesetze und Drehmomente und befördern zwei kleine Raketen in den Theaterhimmel. Auf einer imaginären Fläche, die durch das schnelle Drehen eines Kabels erzeugt wird, erscheint plötzlich wie aus der Luft gegriffen das Videobild eines Wissenschaftlers vor unseren Augen.

Daß bei der „Physik“ nicht alles mit rechten Dingen zu geht, wird schnell klar. Mit beherztem Griff zum Föhn, auf dessem Luftstrahl sie immer mal wieder kleine Bälle balancieren, manipulieren die beiden Komiker die Raumtemperatur nach ihren Wünschen und erzeugen mit wilden Sprüngen nach Belieben „seismische Aktivität“. Wissenschaftler sind eben auch Spielkinder. Bei aller durchaus auch destruktiven Spiellaune bleibt doch ein Unterschied zwischen dem Theater und der Naturwissenschaft. Haben die Versuche des Theaters im Bereich des Gesellschaftlichen und Zwischenmenschlichen einen offenen und oft widersprüchlichen Ausgang, lassen sich die physikalischen Meßergebnisse trotz ihrer theaterhaften Dimension der Darstellung auf eine Kausallogik reduzieren. Die Vorhersehbarkeit der Ergebnisse schmälert dann auch mit fortschreitender Dauer des Abends ein wenig die Lust des Zuschauers.