Der Körper als rotierender Kegel
Meg Stuart zeigt im Frankfurter Mousonturm ihre Choreographie "Disfigure Study"
Als Meg Stuart 1991 auf dem Klapstuck-Festival im belgischen Leuven ihr erstes eigenes Stück vorstellte, kannte sie niemand. Doch „Disfigure Study“ schlug ein wie eine Bombe, weil es abrückte von der Vorstellung, das bloße Finden von Schritten sei die einzige Aufgabe des Choreographen. Meg Stuart fing an, Fragen zu stellen nach dem Wesen des tanzenden Körpers, nach dem Blick des Zuschauers und den gesellschaftlichen Bedingungen und Konventionen, die beide teilen. Die Wiederaufnahme, die mit komplett neuer Besetzung im Februar in Brüssel Premiere hatte, gab dem Publikum im Rahmen der 4. Internationalen Sommerakademie im Mousonturm jetzt Gelegenheit, dieses Schlüsselstück für den Tanz des letzten Jahrzehnts noch einmal zu sehen.
Zwei Beine schweben auf der Bühne des Mousonturms in der Leere des Raumes. Vorsichtig schieben sie sich in das wenige Licht in der Bühnenmitte, legen sich umeinander und streicheln sich als wären sie zwei Hände. Plötzlich ragt aus dem Dunkel des Bühnenbodens ein einsamer Kopf empor und küßt die Füße, die sich um ihn legen als wollten sie ihn erwürgen. Alles erstahlt dabei in einem goldenen Licht, das die Körperteile ganz scharf schneidet, als sei es ein Gemälde von Caravaggio. Meg Stuart konfrontiert den tanzenden Körper mit seinem eigenen Bild, verzerrt es und bricht es auf.
Versehrte Körper, die unsere gewohnte Körperwahrnehmung stören, Gliedmaßen, die, perspektivisch gestaucht oder verlängert, Proportionen und Linienführung des Körpers verändern: Meg Stuart spielt damit, daß der tanzende Körper auf der Bühne auch ein Bild ist, das von wandernden Lichtflecken gerahmt wird. Ruppig dreht Simone Aughterlony, die in der Neufassung die Rolle von Meg Stuart übernommen hat und nichts von deren kantiger Wildheit vermissen läßt, den reglosen und passiven Körper von Joséphine Evrard in ihren Armen, so daß diese immer wieder auf den Boden zu fallen droht. Unisono getanzte Duette präsentieren den Körper als rotierende Kegel oder lebendige Collagen. In einer Zeit, wo der menschliche Körper durch den Boom der neuen Medien in der Tat zu einem entkörperlichten Bild zu werden drohte, beharrte Meg Stuart in „Disfugure Study“ geradezu auf der Fleischlichkeit der menschlichen Existenz. Aus dem Stück spricht auch eine große Zärtlichkeit, die zum einen aus der Gefährdung resultiert, der sich der Körper hier aussetzt, zum anderen aber auch aus der Vehemenz mit der hier altbekannte Bilder von Schönheit zerrissen werden, in der Hoffnung, etwas Anderes, Neues möge sich dahinter auftun.
Viele der Themen und Bilder, die sie in „Disfigure Study“ über einen Probenzeitraum von einem Jahr entwickelt hat, haben sie in ihren folgenden Stücken begleitet. Die atemberaubenden Duette findet sich im Kern auch in „No longer Readymade“ aus dem Jahr 1993. Die Idee, den Körper mit Licht zu zerschneiden und neu zusammenzusetzen, hat sie in ihren Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Gary Hill „Splayed Mind Out“ (1997) wieder aufgegriffen und in wesentlich komplexerer Form fortgeführt. Hahn Rowe hat für die Wiederaufnahme eine komplett neue Musik komponiert, die er, mit einem Plattenteller und einem Computer ausgerüstet, am vorderen linken Bühnenrand live abmischt. Wo vorher die ruppigen Klänge einer elektrischen Gitarre und die schneidenden Töne einer Geige die Zerrissenheit der Körperbilder unterstrichen haben, rahmt jetzt Clubmusik die Szenen und läßt vor allem deren Schönheit in den Vordergrund treten.
Doch am Ende setzt die Musik plötzlich wieder aus. Joséphine Evrard steht zunächst alleine am Bühnenrand, steckt erst ihre Finger, dann ihre ganze Faust in ihren Mund, verzerrt ihn, dehnt ihn und schiebt ihn zusammen als wollte sie ihn aus ihrem Gesicht wegwischen. Dann stellt sich Michael Rüegg neben sie, mit dem Rücken zum Publikum, und läßt seinen rechten Arm über ihren Körper wandern als gehöre er gar nicht zu ihm, sondern zu ihr. Wie ein perspektivisch verzerrter Fremdkörper liegt er auf ihrem Körper, berührt und erkundet ihn bis das Licht über der Szene erlischt. Das Spiel mit den eigenen Körpergrenzen und Körperbildern hat auch nach elf Jahren nichts von seiner Faszination verloren.