Eine Sprache für ihre Methoden

Meg Stuart und Jeroen Peeters über das Buch "Are We Here Yet?"

Corpus 14 Apr 2010German

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Jeroen Peeters ist noch nicht da, und Meg Stuart ist nervös. Sie spricht leise und schnell zur Seite, möchte am liebsten noch keine Fragen beantworten, knabbert Kekse und wippt mit den Beinen.

corpus: Wie haben Sie Jeroen Peeters kennengelernt?

Meg Stuart: Ich weiß es nicht genau, vermutlich bei einem Interview, das er als Tanzkritiker mit mir führte. Er kam später für einige Tage zu den Proben von „Visitors only“, um den Programmhefttext zu schreiben, und verfolgte als künstlerischer Kollaborateur bei „Replacement“ den Probenprozess über ein ganzes Jahr.

corpus: Warum hat er Sie interessiert?

Stuart: Er hat einen sehr genauen Blick und ist ein brillanter Autor. Zudem hat er einen Text über Benoît Lachambres, Boris Charmatz’ und meine Arbeit geschrieben, „Bodies as Filters“, und gerade diesen Text fand ich sehr einnehmend. Er schrieb nicht, was er über die Stücke dachte, sondern über die Choreografien selbst, ihre Tanz- und Bewegungsangebote, da fühlte ich eine Verbindung.

Á propos Verbindung: Peeters kommt aufs Stichwort. Hello!

Stuart: Sie fragte gerade, wo wir beide uns eigentlich kennengelernt haben.

Jeroen Peeters: Das war im März 2000 in einem Brüsseler Tanzstudio, bei einem Interview.

Stuart: Und dann kamst du zu den Proben von „Visitors Only“ - aber vielleicht waren dort die Dinge bereits am Laufen...

Peeters: Nein, das war für mich ein wichtiger Punkt. Es war 2003, ich hatte die Möglichkeit, die Proben für eine Woche zu besuchen. Wie schon 2002, veränderte sich mein Schwerpunkt im Schreiben: Ich verfolgte Workshops und Proben und hatte fortan eine doppelte Perspektive auf dasselbe Stück, einerseits aus dem Theater, andererseits aus den Proberäumen. Ausgehend von diesen zwei Perspektiven entwickelte ich ein unterschiedliches Vokabular für dieselbe Arbeit und denselben Künstler, das faszinierte mich. Dieses Bestreben eines dramaturgischen Schreibens, wie ich es nennen würde, begann dort. Ich wollte diese Möglichkeit auch mit Megs Arbeit haben und besuchte sie im Studio. In dieser einen Woche erfuhr ich viel über ihre Methoden und Arbeitsweisen, da kam erstmals die Idee auf, ein Buch zu machen.

corpus: Wie hat das Probenschauen Ihr Schreiben verändert?

Peeters: Das war natürlich ein langer Prozess. Das erste Mal, dass ich in einer Probebühne war, war das erste Mal per se. Es hat einige Jahre gebraucht, bis ich verstand, was es heißt zu tanzen und diese Arbeit zu machen. Ich entwickelte einen zweiten Zugang neben dem kritischen, kommentierenden Schreiben: einen beobachtenden, dokumentierenden. Anfangs habe ich vieles nebeneinander gestellt, experimentiert, meine Schnick-Schnack-Notizen im Studio gemacht und sie neben mein kritisches Schreiben gestellt. Die Arbeit am Buch begann im Sommer 2004. Es wurde immer mehr zu einer dokumentarischen Recherche, in der ich notierte, was ich sah, gespannt darauf, eine angemessene Sprache nicht nur für einen Künstler, sondern für das Werk zu entwickeln: Gibt es etwas wie einen verkörperten Diskurs? Und wie findet man Worte dafür?

corpus: Ist es denn möglich, einen Prozess zu dokumentieren?

Peeters: Wie Leute auf Proben sprechen, ist schwer zu dokumentieren.

Stuart: Häufig sprechen wir gar nicht. Wir analysieren oder diskutieren nicht, dennoch geht es auch um Worte, die mit einer Handlung, einem Bild oder einer Situation verwandt sind. Aber natürlich sind die Dinge konstruiert, sie verfolgen ein Interesse und versuchen, Menschen an bestimmte Orte oder in bestimmte Zustände zu versetzen. Neben den Proben gibt es ja eine Menge seltsamer, privater Kommunikation, die man als Künstler über seine Arbeit führt, seien es die nächtlichen Kämpfe allein oder wenn man mit jemandem über etwas spricht, oder sich an ein Stück erinnert, das man vor Jahren gemacht hat... es gibt viele Wege, darüber nachzudenken, und sie sind auch Gespräche.

Peeters: Diese sind allerdings hoch informell.

Stuart: Natürlich sind sie das. Es ist ein extremer Fall von informeller Sprache, der in Tanzstudios verwendet wird.

corpus: Warum?

Stuart: Weil wir andere Kunst als Materialquellen verwenden, vielleicht ein Bild, vielleicht ein Buch oder eine Fotografie, aber nur selten Theorie. So gibt es nichts, über das man sprechen könnte, etwa, was eine Performance ist, was sie sein sollte und die Versuche, dies in eine bestimmte Art der Handlung zu übersetzen. Es gibt ständig Themen in meinen Arbeiten, aber ich denke, diese sind nicht notwendig sprachlich fassbar wie bestimmtes theoretisches Material, das an den Studiowänden hängt.

corpus: Jeroen Peeters, können Sie Ihr Interesse an Meg Stuarts Arbeit benennen?

Peeters: Das geht lange Zeit zurück. Erstmals sah ich ihre Arbeit im Oktober 1995, „No one is watching“ in Leuven, wo ich studierte. Von da an habe ich alle ihre Stücke gesehen. Als ich begann, Kritiken zu schreiben, war Meg Stuarts Arbeit irgendwie sehr präsent für mein Interesse an und meinen Blick auf Tanz. Aber was mich an ihren Stücken wirklich fasziniert, ist schwer zu sagen. Für das Buch war ich sehr neugierig darauf, mich in der Welt eines anderen zu bewegen. Einen Werkcorpus zu nehmen als Angebot, ihn zu entdecken, zu sehen, wohin mich das führen kann und wie es mich auch verschieben kann. Ich habe über viele Choreografen geschrieben, und es gibt Arbeiten mit denen ich mich viel mehr identifiziere, etwa von Boris Charmatz, deufert + plischke, Philipp Gehmacher. Diese kleine Distanz zu Megs Arbeiten ist für mich sehr produktiv, um sie weiter zu untersuchen, zu entdecken.

corpus: Wie war die Grundidee des Buches?

Stuart: Ich weiß es nicht. Die Geschichte von Damaged Goods wurde recht umfangreich, es wurden viele Stücke produziert über einen langen Zeitraum. Es gibt nicht notwendig ein großes Repertoire, sondern viele kleine Arbeiten, und auch die Besetzung der Company ändert sich ständig. Nicht so wie bei Forced Entertainment, die noch immer in derselben Zusammensetzung unterwegs sind, sodass sie auch ihre Erinnerungen teilen können. Ich habe immer nur an die Stücke gedacht, die ich gerade produzierte, und mir wenig Zeit genommen, zu reflektieren. Zurückzugehen, zurückzuschauen, Inventur zu machen ist ein ziemlich umfassender Prozess, der für jeden Künstler wichtig ist. Und es gibt viel Text in meinen Stücken, was merkwürdig ist, ich habe das kaum gemerkt und mich auch nie als Autorin gesehen, aber ich begann, die Arbeit am Buch zu genießen - es auszusprechen, mit Sprache zu arbeiten, mich zu artikulieren. Es fühlte sich an, als beträte ich ein fremdes Feld.

corpus: Im Vorwort schreibt Jeroen Peeters, die im Buch ausführlich notierten Übungen aus diversen Workshops von Meg Stuart seien das Herz des Buches. Inwiefern?

Peeters: Ich habe einen ihrer Workshops gesehen und verstand, dass die Art und Weise, wie Meg Dinge und Improvisationen anleitet, auf eine ganz ähnliche Weise bei Workshops wie auf Proben geschieht. Mit dem einzigen Unterschied, dass sich die Übungen über einen langen Zeitraum heraus kristallisiert haben und sie eine fixiertere Form für dieselben Erzählungen bieten. Ich habe sie als einen Diskurs bezeichnet, der sich langfristig in der Arbeit verkörpert, also buchstäblich in den Körpern der Tänzer. Es hat mich fasziniert, eine Sprache für ihre Methoden zu finden, die dem intuitiven Probenprozess recht nahekommt: Man generiert Material, indem man sich lange im Dunkeln bewegt, manchmal weiß man, was geschieht, manchmal überhaupt nicht. So stellen diese Übungen eine Form und eine Konzentration dar: Bausteine des Schaffensprozesses.

Stuart: Ich denke, die Übungen zeigen zudem eine Kontinuität in der Arbeit. Über die Jahre wurde diese Arbeit immer elaborierter und komplexer, sie veränderte sich mit den Räumen, in denen wir arbeiteten, aber es gibt auch Kontinuität. Sie bietet einen bestimmten Standpunkt an, ein Fenster, durch das man Verbindungen sehen kann, Grundlagen sehr früher Stücke, die überspitzt wurden oder aufgeblasen, Fragen, die noch in späteren Stücken eine Rolle spielen und umgekehrt.

corpus: Hat die Arbeit am Buch Ihre Perspektive auf Ihre Stücke verändert?

Stuart: Es ist ein Prozess, ich verdaue noch, es ist neu, es ist alt... Ich denke, es wird sich im nächsten Stück zeigen, das ich dieses Jahr mache.

corpus: Weil Sie vorhin sagten, das Buch diene auch der eigenen Reflektion.

Peeters: Was Du zuvor über Kontinuität anhand der Übungen sagtest, gilt auch für das Buch. Es diskutiert nicht die Stücke, sondern Methoden, es liest Genealogien und das Entstehen von Arbeitsweisen in Workshops und Kollaborationen. Es ist eine Art horizontaler, verflochtener Perspektive auf die Arbeit.

Meg Stuart wird zu ihrem nächsten Interviewtermin hinausgerufen. Thanks! Bye! Jeroen Peeters bleibt.

corpus: Das Buch heißt „Are we here yet?“, ein Zitat aus „Forgeries, Love and Other Matters“ von 2004, einer Kollaboration mit Benoît Lachambre und Hahn Rowe. Warum haben Sie diesen Titel ausgesucht?

Peeters: Ich fand es einen ansprechenden Titel. Er ruft ein Gespür für Prozess hervor, und es geht im diesem Buch wirklich um Prozesse, ebenso um Räume oder Orte. Räumliche Metaphern sind zentral in Megs Arbeit, und auch das Buch kann man als Raum betrachten - wie das Foto auf dem Cover, ein Filmstill aus „Somewhere in between“, wo Meg im Fundus des Schauspielhauses Zürich eine Übung zeigt. Es ist wie eine Einladung ins Buch. Das Buch ist eine Bedienungsanleitung und ebenso ein Raum, den man buchstäblich durchschreiten kann.

corpus: Wie Sie im Vorwort schreiben, kann sich der Leser frei durchs Buch bewegen und dorthin gehen, wo die Neugier ihn hintreibt.

Peeters: Ja. Es gibt keine Inhaltsangabe in „Are we here yet?“.

corpus: Der Titel ist auch eine Frage...

Peeters: Das stimmt. Es geht aber nicht darum, die Wahrheit über Meg Stuarts Arbeit zu erzählen, auch wenn sie viel zur Zusammenstellung des Buches beigetragen hat. Ein Buch ist etwas, das man nicht mehr im Nachhinein ändern kann, also haben wir eine Auswahl von Aussagen getroffen. Das ist schwierig, wenn das Schreiben im Feld des Prozesshaften bleiben soll.

corpus: Es ist auch schwierig, die Flüchtigkeit des Tanzes in Text zu übersetzen.

Peeters: Ja. Aber indem wir uns auf die Arbeitsweisen konzentrieren, anstelle die Stücke zu diskutieren, fühlt es sich nicht so an, als gäbe Meg ihre eigene Sicht auf ihre Stücke wider, die zudem recht widerständig sind. Aber ich denke, Künstler sind die erste Quelle und Hauptquelle, wenn es darum geht, über ihre Arbeitsweisen und -prozesse zu sprechen, und sich darauf zu konzentrieren, diese in einem Buch zu dokumentieren, ist ungewöhnlich.

corpus: Aber so stellt es auch eine sehr interne Perspektive dar.

 

Peeters: Absolut. Es enthält Interviews mit Meg und früheren oder aktuellen Kollaborateuren von Damaged Goods, ebenso Fotoessays und einige Essays, die aber in sehr informellem Ton verfasst sind. Es gibt keine Außenperspektive. Als ich begann, daran zu arbeiten, habe ich mich selbst zwei Jahre lang in Megs Arbeiten eingeschlossen und bei „Replacement“ kollaboriert. Ich war irgendwie ein Doppelagent, der einerseits am Buch arbeitete und andererseits den Probenprozess verfolgte, Feedback gab. Aber ich wollte Ihrer früheren Frage, wie das Buch zustande kam, etwas hinzufügen. Als wir im Frühling 2003 bei „Visitors only“ in Zürich zusammenarbeiteten, realisierte ich, dass es in den 1990er Jahren einen bestimmten kritischen Diskurs gab über die Beziehung zwischen ihrer Arbeit und den Bildenden Künsten, den Bildern in ihren Inszenierungen - vor allem in Flandern, weil Megs Company in Brüssel ansässig war und das ganze Werk dort entwickelt wurde. Während ihrer Residenzen in Zürich und später in Berlin veränderte das deutsche Produktionssystem der Stadttheater den Rahmen ihrer Arbeiten - beispielsweise von „Alibi“. Ich sehe da eine andere Arbeitsweise, und diese Veränderung wurde im Diskurs kaum reflektiert. Zugleich gibt es in Europa eine Tendenz, Tanz primär unter dramaturgischen Begriffen zu lesen, indem seine Narrative oder Reflexionen erklärt werden, weniger seine formalen Prinzipien. Natürlich hängt das von der Art der Arbeit ab. Bei einem formalen Stück - beispielsweise von William Forsythe oder Anne Teresa De Keersmaeker - ist es interessant, dessen Choreografie zu analysieren. In Meg Stuarts Fall gibt es einen anderen Diskurs, weil dort viel Chaos auf die Bühne kommt, eine wilde Energie, die die formale Grundlage ihrer Kunst ist. Auch darum wollte ich ihre Methoden dokumentieren und mit diesen formalen Prinzipien ein Gegengewicht schaffen zu diesem Diskurs, der sich sehr stark auf den Inhalt oder die Aussage konzentriert.