Eine Frau beobachtet einen Mann. Er blickt zu ihr auf, in die Kamera. Stemmt sich aus seinem Sessel empor. „Don't get up!“ dirigiert sie ihn ebenso sanft wie entschieden. Und er, den wir nur per Videoprojektion sehen, bleibt sitzen. Wartet auf Anweisungen, streckt die Beine, den ganzen Körper gen Boden, erprobt seine Spielräume. In die Intimität seines Zimmers bricht immer wieder die Stimme von Meg Stuart ein, die spiegelbildlich auf einem Sessel vor der Leinwand sitzt und schaut: „Please get in the right position. That's better.“ Doch das Blickregime wird von der Zeit durchkreuzt, es ist schlicht unmöglich, dass Rachid Ouramdane auf Stuart reagiert, wie uns die Szenerie weismachen will: Er steht nicht in ihrer Macht. Oder jedenfalls nicht so, wie es das Solo „Private Room“ behauptet - ein paradoxes Spiel zwischen dem Hier und Jetzt und dem vorproduzierten Video, das die Kausalitäten aushebelt. Eine unmögliche Verhandlung des Miteinander, das immer schon stattgefunden hat, der Verhältnisse, die die künstlerischen Probenprozesse ebenso spielerisch umfasst wie das tägliche Leben. Wer beherrscht hier wen? Welches stillschweigende Einverständnis gibt es, welchen Konsens, welchen Pakt? Von woher durchkreuzt uns Ouramdanes Blick in die Kamera, die zum Auge Meg Stuarts ebenso wird wie zu dem des Zuschauers? Die Verhältnisse sind unmittelbar gebrochen - auch zum Publikum als zweitem Beobachter im Bilde, der ständig auf diese Brüche hingeworfen wird.
Nur wenig später wird Tim Etchells, Autor, Performer und Regisseur der britischen Performancegruppe Forced Entertainment, Hollywoodstars in unmögliche Situationen bringen. „Silvester Stalone and Bruce Willis sharing a shower“, verkündet er in seinem Solo „Starfucker“ neben einem roten Barhocker stehend, und: „Tom Hanks at the dentist.“ John Wayne schickt er in den Himmel, Cary Grant in die Hölle. In insgesamt fünf Soli, die die beiden großartigen Künstler hintereinander wegspielen, torpedieren und perforieren sie mediale Oberflächen und öffnen imaginäre Spielräume im Abgrund zwischen Realität und Fiktion. Sie brechen stillschweigend Codes und stellen so Repräsentationsweisen zur Disposition, indem sie hart am Rande des Klischees von Sohnesliebe („Downtime“ / Etchells) und Liebesbeziehungen („I'm all yours“/Stuart) erzählen, ständig oszillierend zwischen einer unmöglichen Nähe, ihrer Darstellung und ihrem Scheitern. Beider Arbeiten schillern zwischen Tun und Tun-als-ob, zwischen Observation und Offenbarung, Preisgabe und Verführung. Doppelte Böden sind vielfach eingelassen in den fünf Soli, die Stuart und Etchells anlässlich der Buchpräsentation von „Are we here yet?“ bei PACT Zollverein in Essen zeigten, einer Publikation über die Arbeit der Company Damaged Goods und Meg Stuart, herausgegeben von Jeroen Peeters.
Der Leser wird zum Komplizen erklärt
Über fünf Jahre hinweg hat der belgische Tanzkritiker, Dramaturg und Kurator Meg Stuarts Arbeit begleitet und mit zahlreichen ihrer Kollaborateure aus 24 Jahren künstlerischer Arbeit und 16 Jahren mit der Company Damaged Goods gesprochen - unter ihnen Tim Etchells, der Tänzer und Choreograf Benoît Lachambre, der Lichtdesigner Jan Maertens, die bildende Künstlerin Doris Dziersk, der Tänzer Varinia Canto Vila, der Komponist Hahn Rowe, der Regisseur Stefan Pucher, der Dramaturg und Autor André Lepecki sowie die Bühnenbildnerin Anna Viebrock. So stellt das Buch den künstlerischen Prozess in den Mittelpunkt, wie er auch schon im Titel anklingt - einem Zitat aus „Forgeries, love and other matters“. Es möchte eben keine letzten Wahrheiten verkünden, sondern einen Arbeitsstand formulieren - und mit ihm Annäherungen an Arbeitsweisen. An der Vielzahl der abgebildeten Professionen wird auch deutlich, wie interdisziplinär Stuart vorgeht, wie sehr die Bildenden Künste, Video und Musik ihre Arbeiten prägen.
Viele Texte stammen von ihr selbst, nebst Ausschnitten aus Performancetexten. Auf dem Titelfoto, einem Filmstill aus „Somewhere in between“ (2004), kehrt Meg Stuart dem Leser den Rücken zu zwischen den Regalen des Zürcher Fundus. Doch schon auf der ersten Umschlagsseite spricht ihre raunende Stimme ihn an: „It is time to act. Forget the pain. Shake vigorously. Rehearse love. Make the first move.“ So wird der Leser unvermittelt zum Komplizen erklärt, zum Mit-Akteur in diesem seltsam und aufregend distanzlosen Buch: „Enjoy your stay." Es gibt keine Inhaltsangabe, keinen Überblick, nirgends. Das Buch möchte keine wissenschaftliche oder journalistische Analyse sein, keine Einordnung der künstlerischen Werke in einen gesellschaftlichen, kulturellen oder sozialen Kontext unternehmen. Vielmehr nimmt es den künstlerischen Prozess in die Nahsicht, es ist eine vielstimmige, heterogene Notation seiner Entstehung - und das macht „Are we here yet?“ unter vergleichbaren Publikationen ebenso besonders wie spannend. In zahllosen Zitaten, Essays, Fragmenten, Skizzen und Fotografien bildet das Buch Text- und Materialschichten aus, durch die der Leser nach Gutdünken schlendern kann, um sich hier oder dort für eine Weile niederzulassen.
Besonders nachdrücklich erzählt es von kollaborativen Prozessen, von den Annäherungen und Abtastungen der Künstler, die die Ästhetik von Damaged Goods entschieden mitprägten. Andrè Lepecki, der als Bühnenbildner und Dramaturg mit Stuart arbeitete, bezeichnet in „Dramaturging. A quasi-objective gaze on anti-memory (1992-98)“ die Kollaboration schon als Methode, die sich vollkommen an die gemeinsamen Gegenwart hält - „the collaborative ‚method‘ [...] had to be absolutely contextual, site, piece- and sometimes even section-specific.“ Ausführlich beschreibt Lepecki, wie er selbst als Kollaborateur um seinen Platz rang, um Definitions- und Aktionsräume, Meg Stuarts Vorstellungswelt zu Diensten zu sein und ihr dabei zugleich etwas hinzuzufügen. Denn die Funktionen der Kollaborateure sind offen, wie auch die Autorin und Kuratorin Myriam Van Imschoot es anhand von „Auf dem Tisch!“ (2005-09) beschreibt, wo sie als künstlerische Kollaborateurin, Dramaturgin und Performerin tätig war und in jeder dieser Rollen einen anderen Blickwinkel auf die Produktion einnahm.
Ein Blick von Innen ins Innerste
Die Auseinandersetzung verschiedener Standpunkte fordert Flexibilität und Neugier, die nicht ganz reibungslose Infragestellung oder Verschiebung eigener Prämissen, die weit in die Bühnensprache hineinreicht. So berichtet Stuart selbst in dem Text „Meeting foreign languages“, dass sie die Auseinandersetzung mit Künstlern anderer Disziplinen stets forciert hätte, um ihre üblichen Arbeitsweisen zu unterbrechen und nicht nur die Arbeit des Anderen zu treffen, sondern den Anderen selbst. So werden Kollaborationen zu Preisgaben des Bekannten, um sich gemeinsam neue Startpunkte zu erarbeiten, wie sie es am Beispiel von „Insert Skin # 1“ (1996) und der Arbeit mit dem Komponisten Vincent Malstaf beschreibt: „Through Vincent's presence, transferring processes from another field into the dance was also extended to music and sound.“ Musikalische Prinzipien brachten sie dazu, zu probieren, wie sie diese in ihre Körperlichkeit übersetzen könne: „How can I sample or remix fragments of my movements, states, or elements of my daily life in my body?“
Mangel und Verlangen, das Spiel mit Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeitsachsen und die Auseinandersetzung mit der Repräsentation von Körpern prägen ihre Stücke. Wie die „displayced bodies“ zustande kommen, deren Glieder sich so uneins sind, beschreibt das Buch vielerorts. Und am besten vielleicht in jenem Teil, den Peeters in seinem Vorwort als Herzstück bezeichnet: Die Exercises aus Stuarts Workshops, in denen sich ihre Körpersprache zu Anweisungen verdichtet und präzisiert, und die auch den Leser auffordern, sich ins Tanzstudio zu begeben, mit den Übungen zu Arbeiten und „letting the tasks slowly overwhelm your body“, wie Peeters schreibt.
Nicht zuletzt ist „Are we here yet?“ ein Archiv, ein Fundus und ein Erinnerungsstück, das die Flüchtigkeit des Tanzes auf- und einholt, sie ver- und überschreibt. Beispielsweise in dem fragmentarischen, subjektiven Stückkatalog, in dem Stuart zu jeder ihrer Choreografien einen kurzen Text verfasst hat, Erinnerungsstücke und Anekdoten, die selten auf den Inhalt des Stücks rekurrieren oder Absichtserklärungen machen, sondern eine frappierende, fast haptische Intimität schaffen - wenn sie erzählt, wie Francisco Camacho, Carlotta Lagido und sie sich vor der Premiere von „Disfigure Study“ (1991) in Leuven die Köpfe schoren: „An androgynous and vulnerable art package waiting to be picked up.“ Dieses Buch ist ein Blick von Innen ins Innerste. Es ist ein Klaubwerk, ein reiches und eigenwilliges Kompendium, das eine ebenso radikale Öffnung und Preisgabe darstellt wie ihre Bühnenarbeiten: Es hält die Buchdeckel nicht geschlossen über dem Werk von Meg Stuart / Damaged Goods, sondern lässt Differenzen bestehen, wirft Spuren aus, es weckt Neugier und provoziert Offenheit.