Das Begehren der Körper
Ein Arbeitsbuch über die Choreografin Meg Stuart
Seit nunmehr zwanzig Jahren ist die amerikanische Tänzerin und Choreografin Meg Stuart aus der internationalen Tanzszene nicht mehr wegzudenken. Jetzt ist ein Arbeitsbuch über die in Brüssel und Berlin lebende Künstlerin erschienen.
Ihre Stücke faszinieren Publikum und Kritiker gleichermaßen. Doch was weiß der Zuschauer über die Entstehung eines Stücks oder über die Arbeitsweise von Meg Stuart? In der Regel wenig. Während sich akademische Publikationen primär von Seiten der Rezeption um die Analyse ihrer Stücke bemühen, wählt der belgische Autor, Dramaturg und Kurator Jeroen Peeters den umgekehrten Weg. In seinem zusammen mit Meg Stuart herausgegebenen Buch Are we here yet?fragt er nach den produktionsästhetischen Bedingungen, die zum Entstehen des Werkes der 1965 in New Orleans geborenen Ausnahmetänzerin und -choreografin führen.
Peeters, der Meg Stuarts Arbeiten schon seit den 1990er-Jahren kennt und der 2005 auch als Dramaturg an Stuarts Großprojekt an der Berliner Volksbühne, Replacement, mitarbeitete, hat 50 Stunden aufgezeichnetes Interviewmaterial zu Texten von unterschiedlicher Länge verdichtet, die Meg Stuarts kreative Prozesse schlaglichtartig beleuchten. Zu Wort kommen vor allem Meg Stuart selbst, die selten zuvor so klar über ihre Arbeit Auskunft gegeben hat wie hier, aber auch zahlreiche ihrer künstlerischen Weggefährten, die von ihren Erfahrungen in der Zusammenarbeit berichten und Stuarts Arbeitsweise beschreiben. Auf diese Weise entsteht ein kaleidoskopartiges Bild von Meg Stuarts Schaffen, das beim Lesen immer wieder neu und anders perspektiviert wird, um unseren Blick auf die Arbeitsprozesse, Entscheidungen und Stücke ständig in Bewegung zu halten. Das Fragmentierte, Suchende, das Meg Stuarts Arbeiten allesamt auszeichnet, gibt auch das Stichwort für die Struktur des Buches. Der Logik des Fragments folgend, hatAre we here yet? keine Kapitel. Die Texte sind lediglich locker thematisch um einzelne Stücke oder Stichwörter wie Dramaturgie gruppiert. Reich bebildert (Grafik: Kim Beirnaerts) und mit Skizzen und Material aus dem Archiv ihrer Gruppe Damaged Goods versehen, ist das Buch eine Art Werkstattbericht, der einen hervorragenden Einblick gibt in das künstlerische Universum Meg Stuarts.
Transformationen des Körpers
Von der Verzerrung zur Transformation der Körper, „from distortion to transformation“, so beschreibt Meg Stuart selbst die Entwicklung ihres Denkens über den Körper. Bereits mit ihrem ersten abendfüllenden Stück Disfigure Study sorgte die junge amerikanische Tänzerin und Choreografin 1991 in der europäischen Tanzszene für Aufsehen. Verdrehte und von den harten Schnitten der Lichtregie zerstückelte Körper waren da zu sehen, ein sprachloser Tanz zuckender Körper wie später in Stücken wie No One is Watching oder Splayed Mind Out, der auch das Publikum elektrifizierte. Seit den 2000er-Jahren kann man eine zunehmende Theatralisierung ihrer Arbeiten beobachten. Greifen sie doch ebenso auf Sprache wie auf die bildmächtigen Bühnen von Anna Viebrock, Barbara Ehnes oder der bildenden Künstlerin Doris Dziersk zurück, in denen die Tänzer ständig ihre Identität wechseln. Was Meg Suart dabei aber im Gegensatz zum Tanztheater einer Pina Bausch nie interessiert hat, ist die Psychologie ihrer Figuren. Stuart bleibt eine Körperarbeiterin, die die Erinnerungen, Verdrängungen und Verletzungen ihrer Figuren an den Zuständen der Körper abzulesen sucht. Gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln sich bei ihr nicht in zwischenmenschlicher Interaktion oder fehlgeschlagener Kommunikation, sondern am Fleisch der Körper selbst. Bei Meg Stuart erzählen selbst die scheinbar abstraktesten Gesten und Körperhaltungen noch eine Geschichte, stellt der österreichische Tänzer und Choreograf Philipp Gehmacher, Partner von Stuart in ihrem Stück Maybe Forever, einmal im Buch fest.
Grenzüberschreitungen: Meg Stuarts Methode
Warum das so sein könnte, versucht Jeroen Peeters ein Stück weit zu beantworten. Sein Buch verfolgt die heimliche These, dass es bei aller Unterschiedlichkeit der Stücke doch so etwas wie eine konsistente Methode gibt, die Meg Stuarts unverwechselbaren Stil zugrunde liegt. Das Herzstück des Buches stellt daher die Auflistung und Beschreibung zahlreicher Improvisationsübungen dar, die der Choreografin als Ausgangspunkt ihrer Recherche dienen. Darin versucht sie ihre Tänzer immer wieder in körperliche Zustände zu versetzen, um sie wie in der Übung „Looking at your own body as if it were dead“, an die Grenzen des Vorstellbaren und Machbaren zu führen. Indem sie sie bittet unmögliche Dinge zu tun, werden sie gezwungen mit Widerständen zu arbeiten, Widerständen, die Spannung erzeugen. Gerade im kalkulierten Scheitern und in der Überforderung entsteht etwas unerwartet Neues und Persönliches, das die Sicherheitszonen konventioneller Tanzsprachen hinter sich lässt. Oft geht es darum, sich nach einer extremen emotionalen Situation aus dem eigenen Körper zurückziehen, sich wie ein Objekt zu betrachten, ein Gespenst zu werden und sich wie ein Medium der Umwelt zu überlassen. Die unglaublich starke Präsenz ihrer Tänzer auf der Bühne resultiert aus ihrer Abwesenheit im eigenen Körper. Mit diesem Vorgehen des Sich-Selbst-Fremd-Werdens theatralisiert Meg Stuart die Körper ihrer Tänzer, die sich stets den Blicken der Anderen und der Zuschauer ausliefern. Jede ihrer Bewegungen erzählt bereits von diesem Begehren nach Kontakt und nach Anerkennung. Der Körper wird so zum Einfallstor für gesellschaftliche Befindlichkeiten, die im Alltag oft nur unbewusst registriert werden.
Dass Meg Stuart das Risiko nie gescheut hat, wird auch an Improvisationsprojekten wie Auf den Tisch! (2005–2009) und Crash Landing deutlich, das zwischen 1996 und 1999 an fünf verschiedenen Orten stattfand. Eingeladen, an diesem Experiment mit offenem Ausgang teilzunehmen waren Künstler aus allen Bereichen, darunter auch viele Tänzer-Kollegen von Meg Stuart, die die europäische Tanzszene der vergangenen 15 Jahre maßgeblich geprägt haben. Hier wird klar, was Are we here yet? auch ist. Es ist nicht nur eine wunderschöne Dokumentation über die Arbeit Meg Stuarts, sondern auch ein Zeitdokument darüber, was den Tanz in weiten Teilen Europas bewegt hat.
Jeroen Peeters und Meg Stuart (Hg.): Are we here yet? Les presses du réel, Dijon 2010 (in englischer Sprache)