Offener Arbeitsprozeß
Xavier Le Roy probt sein neues Stück "Projekt" vor Zuschauern im Bockenheimer Depot
In den Seitengängen des Bockenheimer Depots wärmen sich Tänzer für die bevorstehende Probe auf. Ein paar werfen sich auf der Bühne einen Ball zu und jagen sich über die Spielfläche. An jeder der vier Seiten markieren Lautsprecherboxen Tore. Xavier Le Roy gibt letzte Anweisungen vor dem Probedurchlauf. Er macht Vorschläge, wie man anfangen könnte und was man heute ausprobieren möchte. In den kommenden 90 Minuten präsentieren die Tänzer in klar voneinander abgetrennten Szenen ein kleines Fußballspiel, eine Runde Handball und ein Spiel namens „Corners“. Jedesmal, wenn es die vier Spieler einer Mannschaft geschafft haben, sich gleichzeitig zwischen die vier Tore zu plazieren, strecken die Arme in die Luft und rufen „Corners“.
Die erste Reihe wird kurzerhand zur Ersatzbank umfunktioniert. Kostümteile werden über die Stuhllehen gehängt. Die Tänzer, die nicht gerade auf der Bühne sind, nehmen dort Platz und beobachten das Spiel ihrer Kollegen. Nach jeder Runde steht jemand auf, und verkündet an einem Mikrophon den Punktestand. Der in Berlin lebende Choreograph Xavier Le Roy probiert im Bockenheimer Depot sein neues Stück „Projekt“. Wer ihn kennt, weiß, daß man von ihm kein konventionelles Tanzstück erwarten darf. Mit Arbeiten wie „Self-Unfinished“ oder der Vorlesung „Product of Circumstances“ hat er in der Vergangenheit unsere Sehgewohnheiten und Vorstellungen von dem, was Tanz ist, immer wieder herausgefordert.
„Projekt“ ist das Ergebnis einer langjährigen Recherche, die 1998 in Berlin in einer Turnhalle begann. Abseits von Theatersälen und Probebühnen wollte Le Roy damals eine offene Situation erzeugen, in der Tänzer und Zuschauer ständig die Rollen tauschen konnten. Daraus entwickelten sich schließlich Möglichkeiten, den choreographischen Prozeß nicht von außen durch das wachsame Auge eines Choreographen zu steuern, sondern sich aus der Situation heraus von innen selbst organisieren zu lassen. „E.X.T.E.N.S.I..O.N.S.“, wie das Projekt hieß, lag die Einsicht zugrunde, daß der Körper eine Art Schnittstelle zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Praktiken ist. Weil wir alle körperliche Wesen sind und nur mit unserem Körper Erfahrungen machen, produzieren wir mit und über ihn auch Wissen.
In den folgenden Jahren hat Le Roy auf verschiedenen Festivals von Hong Kong bis Utrecht Workshops abgehalten und ist dabei immer näher an eine konventionelle Aufführungssituation herangerückt. Im vergangenen Jahr ist dann in Berlin die Entscheidung gefallen, aus den Fragen und dem Material eine Choreographie zu entwickeln, die tatsächlich in einem Theaterraum vor Publikum aufgeführt werden kann. Bevor kommenden September in Lissabon Premiere sein wird, erhält das Frankfurter Publikum nun an zwei Abenden im Bockenheimer Depot Gelegenheit, am dem offenen Probenprozeß teilzunehmen.
Für Le Roy ist das Spiel eine Möglichkeit, über die Bedingungen der Performance nachzudenken. Was das Fußballspielen und das Theaterspielen gemeinsam haben, ist ihre Zweckfreiheit, die auf der Basis bestimmter Regeln und Übereinkünfte funktioniert. Geht es beim Fußballspielen jedoch ums Gewinnen, geht es im Theater eher um die Kommunikation von Ideen. Bei Xavier Le Roy löst sich die Kommunikationssituation von möglichen Inhalten, die dargestellt werden. Statt dessen rückt die Form des Interagierens, des Austauschs von Haltungen und Entscheidungen, die während des Spiels auf der Bühne getroffen werden, in den Vordergrund.
Das habe, so Le Roy, bei einigen Zuschauern in der Vergangenheit schon Befremden ausgelöst. Hatten sie erwartet, im Theater eine Fiktion präsentiert zu bekommen, sahen sie plötzlich Tänzern zu, die Ball spielten und dabei auch noch Spaß hatten. „Wir versuchen mit den Spielen Situationen herzustellen, in denen die Tänzer ganz in dem was sie gerade tun, aufgehen und so weit wie möglich entfernt sind vom Theater und dem Spielen einer Rolle.“
Natürlich ist man doch im Theater, und genau um diese Spannung geht es Le Roy. „Die interessante Frage ist, was passiert, wenn wir mit einer offenen Spielstruktur ins Theater gehen. Was macht die Aufführungssituation zu einer Art der Repräsentation? Eine Choreographie produziert ein Werk, ein Tanzstück, das jedoch lediglich eine virtuelle Existenz führt. Um zu sein, müssen wir es aufführen, müssen wir es spielen wie ein Spiel. Nur wenn es gespielt oder aufgeführt wird, existiert es. Für mich stellt sich dann die Frage, was war in dieser Situation an choreographischen Regeln schon vorher da und was kommt bei der Anwendung der Regeln hinzu?“
Ein kontinuierlicher Prozeß des Austauschs, bei dem sich die gesellschaftlichen Regeln des Umgangs miteinander immer wieder neu herstellen, überprüfen und möglicherweise verändern – darin liegt für ihn das Wesen der Performativität, die auch unseren Alltag bestimmt. Deshalb ist es für ihn wichtig, das Publikum in diesem Prozeß mit einzubeziehen. So kann man mit jeder Szene beobachten, wie sie durch das Verändern von bestimmten Regeln näher ans Theater heranrücken, nur um sich gleich darauf wieder davon zu entfernen. Mal überhöht Musik die Spiele, mal suchen die Tänzer Blickkontakt mit den Zuschauern. Plötzlich verlangsamt sich das Tempo und die Bühne leert sich, bis nur eine Tänzerin übrigbleibt. Sie führt eine Bewegung aus, die sie bestimmt vorher auch schon einmal gemacht hat. Doch diesmal hält sie keinen Ball in der Hand. Ohne die funktionale Ausrichtung wirkt die Bewegung vollkommen anders. Heute und morgen um 18 Uhr öffnet Xavier Le Roy für sein „Projekt“ die Tore des Bockenheimer Depots für das Publikum. Die Gruppe wird zunächst den aktuellen Probenstand in einem Durchlauf vorstellen. Danach erhalten die Zuschauer die Möglichkeit, sich über das Gesehene mit der Gruppe auszutauschen. Am Sonntag um 20 Uhr zeigt Xavier Le Roy sein Bühnenstück „Giszelle“. Die Tänzerin Eszter Salamon zitiert in ihrem Bewegungsfluß Posen und Bewegungsmuster bekannter Persönlichkeiten und wirft so die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, mit dem Körper Neues zu erfinden.