Schule als Performance
Boris Charmatz im Gespräch mit Jeroen Peeters über Bocal
Von Juli 2003 bis Juli 2004 leiteten der französische Choreograph Boris Charmatz und die Association Edna das Projekt Bocal im Rahmen einer dreijährigen Residency am Centre National de la Danse. Die nomadische und temporäre Schule Bocal beabsichtigte, die Idee einer Schule für zeitgenössischen Tanz durch Erfindung eigener Ausbildungsmodalitäten ins Leben zu rufen. Charmatz und fünfzehn Teilnehmer mit unterschiedlichem Hintergrund befassten sich mit pädagogischen Fragen im Rahmen eines künstlerischen Projekts außerhalb des bestehenden institutionellen Schulkontextes.(1) Charmatz hatte das Ziel, Bocal durch die Untersuchung des Verhältnisses von Erziehung und Kunst in einen Kontext zu bringen, der durch 14 unterschiedliche Residenzen in verschiedenen europäischen Städten bereit gestellt wurde.(2) Allein die Idee der Durchführung eines Schulprojekts warf Fragen im Hinblick auf die Vermittlung von Kenntnissen, die Umsetzung der Ausbildung, die kritische Positionierung sowie die Betrachtung des Kontextes auf. Bocal wurde letztendlich kein Schulmodell, sondern eher eine Art Behälter voller Ideen, Konzepten, Methoden und Übungen, eingebunden in Aufführungen und Unterricht, Kunst und Pädagogik, Praxis und Theorie. Während eines Gesprächs mit Boris Charmatz im März 2005 kam die Frage auf: Was bleibt? Welche Elemente von Bocal kommen in seiner künstlerischen Praxis weiterhin zum Ausdruck?
'Ich bin eine Schule'
Wenn man mich fragt, wann BOCAL seinen Anfang nahm, kann ich dazu nur soviel sagen: Bocal existierte bereits zum Zeitpunkt seines offiziellen Beginns und läuft auch jetzt noch, acht Monate nach seiner Beendigung. Bocal hatte nie einen wirklichen Anfangspunkt, da sich die Idee von der Schule bereits in uns gefestigt hatte. Bocal war jedoch eine Schulart, die ein Novum für uns war - es gab also eine Menge zu entdecken. Die Behauptung, BOCAL sei eine Schule oder BOCAL sei eine einjährige Performance-Gruppe, ruft vollkommen andere Vorurteile und Erwartungen hervor.
Als wir Bocal mit dem Konzept Schule in Verbindung brachten, wurden verschiedene Erinnerungen und Alpträume in uns wach, die mit Diplomprüfungen, Erfahrungen mit Lehrern etc. zusammenhingen. Natürlich hat jeder Mensch eine Vorstellung davon, was Wissen, was Ignoranz und was Lernen bedeutet. Man ist versucht, Schule als einen Lebensabschnitt zu sehen, der im Grunde genommen aber viel mehr umfasst als nur Schule: Die Gedanken kreisen um die Fächer Mathematik, Philosophie und Sport; es geht aber auch um Auseinandersetzungen mit Anderen, um stundenlanges Stillsitzen, den ersten Kuss, und darum, wie man sich selbst als Junge oder Mädchen wahrgenommen hat. Es ist ebenso die Zeit der eigenen Identitätsbildung und sexuellen Aufklärung. Schule ist Bestandteil der eigenen Fantasie, der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt. Ich denke, dass man die Schulzeit sein ganzes Leben lang verinnerlicht (also wie sie funktioniert, wie man lernt, usw.), als dass man sie beginnt und beendet. Daher denke ich, dass ich tatsächlich eine Schule bin.
Diese Behauptung bedeutet natürlich, dass man auch sich selbst ständig etwas beibringt. Das Gehirn ist aktiv, man korrigiert sich selbst, man lernt. Man beobachtet das Verhalten Anderer. Beim Sprechen oder durch Berührungen wird etwas übermittelt. Man gibt Informationen preis, die von anderen interpretiert werden. All dies passiert mit einer einzigen Geste. Die Vorstellung “Ich bin eine Schule” impliziert auch, dass Erziehung nicht unbedingt im Klassenzimmer, sondern überall und jederzeit stattfinden kann, wenn man sich der Schule in einem selbst bewusst ist. John Cage und andere sind der Auffassung, dass man bereits viel weiß, dies jedoch nicht zum Ausdruck bringt, da einem stets gesagt wird, dass man noch nicht ausreichend geschult sei. Man kann seine innere Wahrnehmung gut trainieren, indem man sich selbst als Schule sieht und seine eigenen, bereits vorhandenen Potentiale erforscht.
Umgeben vom Duft des Tanzes
Ein Ausgangspunkt von Bocal war die Entscheidung, keine ‘echten’ Lehrer heranzuziehen, sondern stattdessen den Unterrichtsstoff aus Aufführungen, Büchern, Videos, Audioarchiven und anderen Dokumentationsformen zu ziehen. So wurde das Ansehen von Tanzvorstellungen Teil unserer Schule. Das Interesse für Tanzvorstellungen ist von jeher auch Teil meiner eigenen Tanz-Biographie gewesen. Ein Stück von Jean-Claude Galotta rief in mir bereits in jungen Jahren den Wunsch hervor, mit dem Tanzen zu beginnen. In dieser Aufführung aßen Menschen im Alter von ungefähr 45 Jahren belegte Brote auf einem Bahnhof in Paris und tanzten zwischen den Leuten herum, die auf ihren Zug warteten. Ich erlernte u.a. an der Paris Opera School unterschiedliche Techniken - das ist allerdings nur ein Mosaikstein. Das Ansehen von Tanzvorstellungen oder von Andrei Tarkowski-Filmen, das Lesen von Gedichten oder das Entdecken der Welt des Choreographen Dominique Bagouet - all diese Erfahrungen waren für meine Ausbildung ebenso wichtig wie der Ballettunterricht.(3)
Die Idee, den Kulturbereich in Bocal zu integrieren, war der Auslöser für unsere erste Residenz beim ImPulsTanz-Festival in Wien im Juli 2003. Dort wurden Workshops mit 90 unterschiedlichen Lehrern angeboten und wir besuchten jeden Abend ein oder zwei Aufführungen. Einige Bocalisten hatten bis dato entweder nur wenige Tanzvorführungen gesehen oder nahmen gerade ihre ersten Tanzstunden: Wien versprach ein komplettes Abtauchen in diese Welt, umgeben vom Duft des Tanzes, auch wenn dieser ein wenig beschränkt war. Vielleicht findet man dort nicht den optimalen Lehrer. Oder aber man muss seine Zeit aufteilen, so dass man letztendlich einen Cocktail verschiedenster Techniken hervorbringt, obwohl es unter Umständen besser wäre, nur einen Weg zu verfolgen oder seine eigenen Verfahren zu entwickeln. Wie sollte es einem denn nicht langweilig werden, wenn man pro Tag eine Aufführung sieht oder wenn man keine Lust mehr hat, mit 3000 Tanzstudenten einen Praxiskurs zu belegen, ohne eine einzige Theorie-Stunde zu absolvieren? Das ist in Wien gang und gäbe.
Nichtsdestotrotz ist Tanz nach wie vor eine körperliche Ertüchtigung. Einer unserer Hauptschwerpunkte lag jedoch auf der Verwendung von Sprache bei körperlichen Übungen. Es wird immer und überall gesprochen und kommuniziert – sei es im Falle von Anweisungen im Yoga-Unterricht oder Parabeln und Metaphern in Elsa Wolliastons afrikanischen Tanzkursen. Auch im Umkleideraum und auf dem Flur ertönen ständig Wörter. Die Art, wie Lehrer Sprache in ihrem Unterricht verwenden, bestimmt auch die Art, wie sie sich bewegen. Unterrichten durch mündliche Erklärungen begleitet von praktischen Übungen gibt einem die Möglichkeit, eine Bewegung eingehender zu erläutern und besser zu verstehen und unter Umständen sogar besser darzustellen. Es geht um die Art, wie Lehrer mit einer Gruppe sprechen oder auch nicht, die Art, wie sie sich selbst unterrichten durch Erklärungen und Demonstrationen: Wir haben Lehrer beobachtet, um herauszufinden, wie der Gebrauch von Sprache ihren Geist und Körper verändert. Wie werden Bewegungen und Gesten durch Sprache verwandelt? Wie kann es sein, dass ein Lehrer, der auf einem Stuhl sitzt, in der Lage ist, 30 Menschen in einer Sekunde zum Zittern zu bringen? Also sahen wir uns Vorführungen an, besuchten und verfolgten Workshops, beobachteten Unterrichtsweisen und die Ästhetik der Pädagogik, als sei sie auch eine Aufführung - all das gehörte zu unserer Ausbildung.
‘Wie bildet man heutzutage einen jungen Künstler aus?’
So lautete das Thema einer Diskussionsrunde, die wir nach einigen Wochen in Wien organisierten. Das Ergebnis war erstaunlich: Es war nicht nur eine Übung oder ein Kurs, sondern vielmehr eine von und für uns organisierte Aufführung. Jeder von uns musste im Namen eines Lehrers oder Festivalkünstlers sprechen, wie z.B. Zvi Gotheiner, Elsa Wolliaston oder Anne Teresa de Keersmaeker. Es bestand die Gefahr, in Ironie zu verfallen. Aber wir wollten nicht mit den Ikonen herumalbern bzw. ihr Verhalten nachahmen. Einige der Lehrer waren gänzlich unbekannt. Wir suchten nach einem Weg, uns mit der Arbeit Anderer zu verbinden. Im Tanz bevorzugen wir eine direkte Beziehung zum Künstler, um von ihm zu lernen. Doch wie soll man dann die Welt des kürzlich verstorbenen Choreographen Dominique Bagouet erforschen? Soll man ihn aufgrund des fehlenden Kontakts einfach außen vor lassen oder soll man stattdessen versuchen, etwas von seinem Universum zu erahnen?
Lehrer nahmen an unserer Diskussionsrunde nicht teil. Überhaupt arbeiteten wir ziemlich selten mit ihnen zusammen, manchmal überhaupt nicht. Dennoch hielt uns der fehlende oder nicht gewollte Kontakt nicht davon ab, die uns innewohnenden Ressourcen zu nutzen, um ihre Ideen zu erkunden. Die Diskussionsrunde befasste sich mit der Wichtigkeit, Kurse innerlich zu verarbeiten. Es handelte sich um eine Aufführung, die uns zum Bewegen und Denken anregen und unsere grauen Zellen auf Trab bringen sollte.
Angenommen man belegt einen einzigen Kurs über afrikanischen Tanz mit Elsa Wolliaston - was würde sie wohl auf die Frage antworten, wie ein junger Künstler heutzutage ausgebildet werden sollte? Man könnte jetzt sagen: „Keine Ahnung“. Geht man jedoch von einer einfachen, bekannten Übung aus, gibt es eine Menge zu entdecken: Ein Kurs beinhaltet eine Unmenge von ästhetischen und philosophischen Aussagen; und man grübelt über die Frage, was man mit all dem anfangen soll oder auch nicht. Ein Kurs ist der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion eines Universums. Es handelt sich also zwangsläufig um ein Fantasieprojekt, das einen jedoch anregt, darüber nachzudenken, zu erraten und zu erriechen, was in dieser einen Geste nachklingt. Welche Philosophie oder Ideologie steckt dahinter? Was sagt die Bewegung aus? Wie wird die Bewegung gelehrt? Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen Männern und Frauen? Es kommt darauf an, sich all das zu eigen zu machen. Nähert man sich dem Wolliaston-Kurs mit dem exotischen Interesse eines Touristen, so kommt man selbst nicht voran, und auch Wolliaston bleibt da, wo sie ist. Versucht man hingegen herauszufinden, was sie auf die Frage entgegnen würde – indem man selbst versucht, afrikanischen Tanz zu unterrichten – so nimmt man es auf, denkt darüber nach und bewegt sich schließlich in der fremden Welt von Elsa Wolliaston. Es ist nicht ihre tatsächliche Welt, und es ist auch kein ‘echter’ afrikanischer Tanz – aber es ist ein sehr guter Ausgangspunkt für einen Lernprozess.
Aufführungen vorhersagen
Wir sahen 31 Tanzvorführungen in einem Monat und besuchten Museen und Ausstellungen in Wien. Um diese täglichen Seh-Übungen zu überstehen, schlug ich vor, eine ‘Vorhersage’ zu organisieren. Vorhersage bedeutete in diesem Fall, durch Bewegung und Sprache die Aufführung des nächsten Tages vorherzusagen. Bevor wir jedoch zur tatsächlichen Beschreibung der noch nicht gesehenen Aufführungen übergingen, mussten wir uns zunächst mit der Art und der Bedeutung der Übung auseinandersetzen. Wir spekulierten und untersuchten, wie die Übung genau aussehen würde. Ist es überhaupt möglich vorherzusagen, was passieren wird? Was ist mit Improvisationen und Premieren? Wird eine Aufführung durch Voraussagen nicht schon vor Beginn ruiniert? Ist der ideale Zuschauer nicht offen, aufgeschlossen und neutral? Wie geht man mit den eigenen Erwartungen um?
Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die man schon vorher kennt: Den Titel, die Gerüchte, den Programmtext, eventuell auch Bilder; möglicherweise hat man schon mit jemandem über die Aufführung gesprochen; vielleicht hat man auch das Ensemble schon einmal gesehen. In der Tat weiß man also bereits eine Menge, und durch das Formulieren der eigenen Vorurteile wird man zu einem überaus aktiven Zuschauer. Man ist gezwungen, das, was einem gefällt oder missfällt, was man versteht und was man über das Theater und das Wesen des Publikums weiß, in Worte zu fassen. Seltsamerweise ist es jedoch oft so, dass Dinge, die man beschreibt, wirklich auch eintreten, da man Stereotypen vorhersieht, die gut zusammenpassen. Außerdem sieht man immer das, was man sehen möchte. Daher geben Vorhersagen wahrscheinlich mehr Aufschluss über einen selbst, als über die Aufführung. Letztlich arbeitet man an sich selbst, an seinen Meinungen und Vorurteilen, und sagt nicht nur die Arbeit eines Künstlers vorher.
Bücher im Studio
Da wir uns entschlossen hatten, keine Lehrer für Bocal hinzuzuziehen, lautete die Alternative: Arbeit mit Büchern und Dokumenten. Hierzu stellten wir eine Bibliothek zusammen, die uns auf alle Residenzen begleitete. Die Wanderbibliothek bestand sowohl aus einer Auswahl an neuen Büchern, als auch aus Materialien von Bocalisten, die gemeinsam gelesen wurden. Allein schon die Buchtitel vermittelten einen Eindruck über die Wissensbereiche, die es zu erforschen galt: Tanz, Kunst, Pädagogik, Ästhetik und Soziologie. Diese Bücher wurden bei Bocal häufig verwendet und wir hatten die Absicht, um sie herum eine Kultur aufzubauen.
Wir sprachen immer wieder über Laban und Tanzgeschichte, lasen Gedichte von Christophe Tarkos und Gherasim Luca, befassten uns mit Aussagen von Künstlern wie Robert Filliou und John Cage zum Thema Ausbildung. Der unwissende Lehrmeister von Jacques Rancière spornte uns an, das Thema Ausbildung anders zu betrachten: Es handelt sich um eine Parabel, die auf der Vorstellung basiert, dass Personen, die selbst nicht schreiben können, in der Lage sind, Anderen das Schreiben beizubringen. Und wenn man Dinge vergleichen und richtige Ergebnisse fördern kann, dann kann man auch Unterrichten. Das wiederum bedeutet, dass Schule auch innerhalb der Familie oder anderswo stattfinden kann: Die Idee einer Schule außerhalb der Schule war ein gemeinsames Forschungsinteresse von Bocal.
Lesen bot einen angenehmen und einfachen Einstieg in die Forschungsarbeit. In Tanzschulen wird die Bibliothek nicht immer aktiv besucht; Bücher werden in der Regel nicht so vielfältig eingesetzt. Wir haben Bücher mit ins Studio genommen und uns Übungen mit diesen Büchern ausgedacht - das Ergebnis war eine Mischung aus Training und Lesen. Grundlage dafür war die simple Beobachtung, dass man als Tänzer den ganzen Tag im Studio verbringt und wenn man nach Hause kommt, einfach zu müde zum Lesen ist. Als würden sich Lesen und Tanzen gegenseitig ausschließen. Warum sollte man den Spieß nicht einfach umdrehen und das Lesen in die tägliche Praxis integrieren?
Das Buch ist dein Boden
Während des Lesens dachten wir uns Aufwärmübungen aus. Für eine Übung entfernten wir z.B. sämtliche Lesemöbel und lasen direkt auf dem Studioboden, ohne Kissen oder sonstiges. Nach einer Weile fängt man an, Strategien zu entwickeln, um ein Buch zu halten – das sind kleine aber feine Choreographien. Die Positionierung der Hand, die Körperhaltung. Kann man in einer bestimmten Position verharren oder nicht? Wie viele verschiedene Haltungen nimmt man ein? Eine echte Verhaltensstudie.
Bei einer anderen Übung stellt man sich einfach hin und stellt sich vor, das eigene Buch könne sich bewegen. Ähnlich wie bei der Alexander-Technik passt man seinen Blick und seinen Hals dem zu lesenden Text an. Dann bewegt man das Buch ein wenig, und nach einiger Zeit stellt man fest, dass man den Text nicht aus den Augen verliert. Man kann sich also bewegen und dabei lesen. Auf der Grundlage dieses Prinzips entwickelten wir Duette: Eine Person liest, die andere bewegt langsam das Buch. Schließlich entwickelt man Methoden, um den Leser dazu zu bringen, sich kontinuierlich zu bewegen. So kann man erfahren, wie der eigene Blick mit der Wirbelsäule verbunden ist, wie präzise man seine Wirbelsäule bewegen kann, welche Art von Umgebung sie schafft, was geht und was nicht geht.
Eine andere Übungen bestand darin, sich das Buch als eigenen Untergrund vorzustellen. Man legt das Buch auf den Boden und stellt sich darauf, wobei man ausschließlich das Buch berührt; anschließend liest man daraus, ohne den Boden zu berühren. Selbstverständlich ist es einfacher, mit einem großen Buch zu beginnen; aber nach dem Dehnen, auf der Suche nach dem richtigen Gleichgewicht und der Genauigkeit der Bewegungen entdeckt man unzählige Haltungen, die Körperlichkeit, Gleichgewicht, Konzentration, Bewusstsein, etc. verbinden. Es ist nichts weiter als eine Modern Dance-Übung. Und gleichzeitig liest man; und selbst wenn man nur zehn oder zwanzig Seiten liest und nicht alles behält, ist es besser als gar nichts. Nach dem Aufwärmen kann man mit dem Workshop beginnen und ist bereit, neue Erfahrungen zu machen - man hat sich körperlich aufgewärmt und Lesestoff im Gepäck. Um das Wissen über unsere Lese-Aufwärmübungen und Lese-Sessions mit anderen zu teilen, bewegten wir uns in Zweiergruppen, wobei eine Person der anderen Fragen zum Lesestoff stellte.
Auf dieser Grundlage können zunehmend komplexere Übungen entwickelt oder Tanzübungen durchgeführt werden; man nimmt zum Beispiel ein Buch und schaut, was möglich ist. Wie viel Raum bleibt zum Improvisieren, wenn man ein Buch in der Hand hält oder liest? Wie treten Körper in Kontakt zueinander, während sie an etwas anderes denken? Bei BOCAL hatten wir das Ziel, die Trainingsumgebung komplexer zu gestalten und uns nicht nur auf eine Tätigkeit zu beschränken. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Alltag und die Handlungen von Menschen im Allgemeinen stets von mehreren Faktoren gleichzeitig beeinflusst werden. Lesen beim Bewegen war eine Form, dieses Ziel zu erreichen - mit sechzehn Lehrern, verschiedenen Büchern, Bewegungen, unterschiedlichen Arten der gegenseitigen Annäherung... alles in einem einzigen Kurs. Und dennoch ist man selbst dafür verantwortlich, was man tut; dafür, dass man seine Handlungen beobachtet, das richtige Gleichgewicht findet und einschätzt, wie viel man davon verdauen kann: Man ist sein eigener Lehrer. Das Multitasking-Konzept hat ebenfalls viel mit Improvisation zu tun: Es gibt einen Raum und jeder bestimmt selbst, wie er ihn nutzen möchte; man muss allerdings im Auge behalten, was um einen herum geschieht. Lesen in Bewegung ist eine Übung, welche die Komplexität dessen widerspiegelt, was heute auf der Bühne geschieht.
Noten
(1) An Bocal nahmen teil: Félicia Atkinson, François Chaignaud, Nicolas Couturier, Maeva Cunci, Eve Girardot, Gaspard Guilbert, Joris Lacoste, Elise Ladoué, Clément Layes, Barbara Matijevic, David Miguel, Bouchra Ouizgen, Frédéric Schranckenmuller, Natalia Tencer und Nabil Yahia-Aïssa.
(2) Neben dem Centre national de la danse (Paris/Pantin), das in dem Jahr sechsmal besucht wurde, seien hier ImPulsTanz (Wien), Le Quartz (Brest), Bonlieu Scène Nationale (Annecy), Les Subsistances (Lyon), Espace Malraux (Chambéry), sowie ein leerstehendes Krankenhaus in Dubrovnik genannt. Einige Aufführungsorte wurden mehrmals besucht.
(3) Für weitergehende Informationen zur Tanzausbildung von Charmatz siehe: Boris Charmatz und Isabelle Launay: Entretenir. À propos d’une danse contemporaine, Paris: Centre national de la danse/Les presses du réel, 2002, S. 50-56, 70-72.
(4) Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister, Wien: Passagen Verlag, 2007