berlin, 18. april 2011
liebste constanze!!!
hab jetzt meine dropbox geputzt, (siehe message unten) aber die audios waren trotzdem drauf. ich lad sie runter und mach sie technisch fein.
lese grade über die erfindung der perspektive und die auffassung der kunst als imitation der natur, bei daniel arasse (1), sehr spannend! es gab viele umwege bevor die fluchtpunktperspektive (mit einem einzigen gesichtspunkt und einem einzigen fluchtpunkt) als kanon festgelegt wurde, in der renaissance. er beschreibt sehr schön wie dieses zyklopenauge anders ist als unser natürliches gucken (weil wir zwei augen haben, die ständig wandern, die welt abscannen). die konstruktion der einäugigen perspektive wurde von dem architekten filippo brunelleschi miterfunden, der (siehe diderots auffassung vom theater hihi) ein loch in eine pappe gestochen hatte, durch das er die welt anblicken, erfassen konnte, um seine modelle bauen zu können und zu beweisen, das architektur eine frage der darstellung ist. es gab viele spiegel in den ateliers der renaissance, doch die waren gebogen, konvex (wie unsere pupille und das dach von “for faces”). der maler jean fouquet malt 1452 eine sich drehende, konvexe perspektive, also gibt es bewegung in seinem bild "heures d'étienne chevalier, charité de saint martin". er malt das ohne zu wissen dass unser auge von innen konkav ist und wir deshalb tatsächlich eine gebogene vision haben. die erfindung des flachen spiegels kam später. deshalb auch die vielen umwege bevor es zum monofokalen fluchtpunkt kam. es ging darum, dem menschen einen monolithischen, festen platz im anbetracht des objekts zu schaffen, sagt arasse.
also, ziel bzw. effekt 1: den menschen klar zu trennen vom objekt und von der natur und ihm einen privilegierten platz in der welt zu schaffen. ziel bzw. effekt 2: die kunst, dessen ziel es ist, die natur zu imitieren, einen klaren kanon zu geben. die erfindung der perspektive war auch sehr stark beeinflusst von der kartographie in florenz. paolo toscanelli schreibt an columbus, er soll nach westen gehen um zu schauen, ob da was ist, und gleichzeitig schreibt er einen traktat über die perspektive. mit malewitschs "weißes quadrat auf weißem grund" ist finito mit der perspektive. aber diese konstruktion wird dann mit dem zyklopenauge der kamera weitergeführt bis heute. so ist meine sicht auf “holding hands” (2) und “self unfinished” (3) als mono‐fluchtpunktstücke, weil sie mit der videokamera als "outside eye" gemacht sind, sogar historisch gefüttert. auch meine interpretation von "un après‐midi" (4) als landschaftliches perspektivstück mit zwei fluchtpunkten. "un après‐midi" wäre so ein bisschen wie absurdes analoges 3D kino, die sehnsucht, unsre binokularität miteinzubeziehen - also "pina" (5) analog :‐). und “for faces” (6) dann... als explosion der augenpunkte und gesichtspunkte, dann. oder als fouquets sich drehende konvexe perspektive.
aber wie verhalten sich all diese stücke zur mimesis? sie versuchen alle, die "natur zu imitieren", sogar ganz naturalistisch (und eben nicht stilisiert wie bei noverre, oder realistisch wie bei brecht). und gleichzeitig imitieren sie gar nichts sondern stellen nur etwas dem blick des betrachters zur verfügung. die performer_innen tun nicht "als ob". sie sind musiker_innen (7) . sie spielen ihre gesichter nicht wie schauspieler_innen, sondern wie musiker_innen ihre instrumenten spielen. und doch ist der effekt davon teilweise illusionistisch.
manche zuschauer_innen haben die illusion, dass sie angeschaut werden oder auf sie reagiert wird, obwohl lediglich ein tanz, eine bewegungsabfolge vor ihren augen ausgeführt wird. andrerseits, könnten wir einwenden, geht es darum WIE diese bewegungsabfolge ausgeführt, die partitur interpretiert wird. und da schwingt empathie, ansteckung (tanz ist ansteckend) mit. die ausführung ist nicht rein mechanisch. sie ist persönlich. und sie findet im moment der aufführung statt, beeinflusst von der spezifischen person, die da heute abend im publikum sitzt. die ausführung der bewegungsabfolge ist durchlässig. "hindurchsehen", "hindurchschauen": was sagt das grimm dazu (das deutsche grimmsche wörterbuch)? und was sagt monsieur grimm zur grimm-masse?
oh jemine das ist eine masse an neuen gedanken, wo wir doch grad KÜRZEN WOLLTEN!!!!! sorry sorry sorry lag mir nur so sehr auf der zunge.
was wir noch sagen sollten, irgendwo: die körperliche situation der zuschauer_in und der performer_in in "for faces" ist fast identisch. beide sitzen und schauen. die einen schauen aus und die andren zu. die aktivität der augen ist das verbindende - und trennende - element zwischen beiden. das ist für mich der kern von "for faces".
noch ein paar notizen:
die coda (teil 4) ist dann das leben als grimassenpartitur. bzw. in bologna (das letzte gastspiel von "for faces" - unplugged version) kam es mir so vor, als habe das publikum in teil 1 bis 3, den teil 4 selbst performt, und dann in teil 4 hat es sich umgedreht. die gesichter des publikums hatten so viele ticks und fratzen und zerknautschte ausdrücke, das s sie alle wie grimassen aussahen, bis sie sich in teil 4 im lächeln und lachen auflösten. so wurde die coda (teil 4) zu einem portrait des publikums. auch klanglich haben sie die coda performt während des stücks! gestöhnt, geschluckt, geschmatzt.
in wie weit wird in “for faces” das leben illusionistisch imitiert , so dargestellt, als sei es das echte leben, und in wie weit wird das echte leben in “for faces” einfach ausgestellt? die gesichter werden dahin gestellt, der betrachter_in zur verfügung gestellt. (aber das habe ich schon gesagt, glaube ich?)
à bientôt!!!!!!!!!
ganz liebe bisessss,
anton
postskriptum:
"The only thing that is different from one time to another is what is seen and what is seen depends upon how everybody is doing everything. This makes the thing we are looking at very different and this makes what those who describe it make of it, it makes a composition, it confuses, it shows, it is, it looks, it likes it as it is, and this makes what is seen as it is seen. (...) The composition is the thing seen by every one living in the living they are doing, they are the composing of the composition that at the time they are living in the composition of the time in which they are living. It is that that makes living a thing they are doing.“
– Gertrude Stein, "Composition as Explanation"
1 Daniel Arasse, "Histoires de peintures", Paris, 2004
2 "Holding Hands", ein Duett von Antonia Baehr, mit William Wheeler und Antonia Baehr, 2000 uraufgeführt. Das Stück ist Teil einer Emotionstrilogie, zusammen mit "Un après‐midi" (2003) und "Lachen" (2008). In den fünfunddreißig Minuten von "Holding Hands" halten die beiden Performer_innen durchgehend Händchen und bewegen sich nicht von der Stelle. Sie stehen frontal zum Publikum. Sie performen unisono die Emotionspartitur von Maria Callas in der Arie "Tu che le vanita" von Verdi, in mehreren Variationen. Lange Strecken bestehen aus einer mikrochoreographischen Abfolge von Gesichtsausdrücken und Kopfbewegungen. "Holding Hands" wurde am Künstlerhaus Mousonturm im Rahmen von Plateaux 2002 aufgeführt.
3 "Self Unfinished", ein Solo von und mit Xavier Le Roy, 1998 uraufgeführt
4 "Un après‐midi", ein Quartett von Henry Wilt und Antonia Baehr. "Un après‐midi" ist ein landschaftsartiges Stück zu "Prélude à l'après‐midi d'un faune" (Mallarmé/Debussy/Nijinski) auf der Basis von verschachtelnten Partituren. Vier Drag Kings performen ohne vorangehende Probe Anweisungen über Mini‐Disk Playern und Kopfhörern. Dabei erhalten jeweils zwei Paare überwiegend dieselben Anweisungen. Die beiden Paare führen die Anweisungen zeitgleich aus, getrennt von einem Paravent, die die Bühne in zwei gleichen Hälften durch ihre Mitte teilt. "Un après‐midi #7" wurde am Künstlerhaus Mousonturm aufgeführt (Internationale Sommerakademie 2004)
5 "Pina", ein Film für Pina Bausch von Wim Wenders in 3D, 2011
6 "For Faces", ein mikrochoreographisches Quartett für das Gesicht uraufgeführt im November 2010, von Antonia Baehr. Das Publikum sitzt in einer Rauminstallation im Kreis um die vier Performer_innen herum. "For Faces" ist sechzig Minuten lang und in vier Teile gegliedert, die von tiefen Blacks umrahmt sind. In jedem der vier Teile sitzen die Performer_innen in andrer Konstellation zueinander.
7 Die Interpret_innen von "For Faces" sind Sabine Ercklentz, Andrea Neumann, William Wheeler und Arantxa Martinez. Sabine Ercklentz und Andrea Neumann ist ein Musikerinnen Duo. William Wheeler und Arantxa Martinez sind sowohl Musiker_innen als auch Tänzerin/Choreographin (Arantxa Martinez) und Performer/bildender Künstler (William Wheeler).