Facing For Faces

Vortrag zum Mitnehmen

Sarma 3 May 2011German

item doc

Contextual note
This letter was handed out to the audience as part of the lecture 'Not not a lecture #2: Facing For Faces' by Antonia Baehr and Constanze Klementz, presented at Mousonturm Frankfurt on 3 May 2011. It was published by Sarma in Spring 2013 as part of the Antonia Baehr Collection. The script of 'Facing For Faces' is also available in this collection.

 berlin, 
18. 
april 
2011



 

liebste 
constanze!!!


 

hab
 jetzt 
meine 
dropbox 
geputzt, 
(siehe 
message 
unten) 
aber 
die 
audios 
waren
 trotzdem
 drauf. 
ich 
lad
 sie 
runter 
und 
mach
 sie 
technisch 
fein.




lese
 grade 
über 
die 
erfindung
 der 
perspektive
 und 
die 
auffassung 
der 
kunst 
als 
imitation 
der 
natur, 
bei 
daniel 
arasse 
(1),
 sehr 
spannend!
 es 
gab 
viele
 umwege
 bevor 
die 
fluchtpunktperspektive 
(mit 
einem
 einzigen
 gesichtspunkt 
und
 einem
 einzigen
 fluchtpunkt) 
als 
kanon 
festgelegt
 wurde, 
in 
der 
renaissance. 
er 
beschreibt 
sehr 
schön 
wie 
dieses 
zyklopenauge
 anders 
ist 
als 
unser
 natürliches 
gucken 
(weil 
wir 
zwei 
augen 
haben, 
die 
ständig 
wandern,
 die 
welt 
abscannen).
 die 
konstruktion 
der 
einäugigen 
perspektive 
wurde 
von 
dem 
architekten 
filippo 
brunelleschi 
miterfunden, 
der 
(siehe 
 diderots
 auffassung
 vom
 theater 
hihi) 
ein 
loch 
in 
eine 
pappe 
gestochen
 hatte, 
durch 
das 
er 
die 
welt 
anblicken, 
erfassen
 konnte, 
um 
seine 
modelle 
bauen 
zu 
können 
und 
zu 
beweisen, 
das 
architektur 
eine 
frage 
der 
darstellung 
ist. 
es 
gab 
viele
 spiegel 
in 
den 
ateliers 
der 
renaissance, 
doch 
die 
waren 
gebogen, 
konvex 
(wie 
unsere 
pupille 
und 
das 
dach 
von 
“for 
faces”).
 der 
maler 
jean 
fouquet 
malt 
1452 
eine 
sich 
drehende, 
konvexe 
perspektive, 
also 
gibt 
es 
bewegung 
in 
seinem 
bild 
"heures 
 d'étienne 
chevalier, 
charité
 de
 saint 
martin".
 er
 malt
 das
 ohne
 zu
 wissen 
dass 
unser 
auge 
von 
innen 
konkav 
ist 
und
 wir
 deshalb 
tatsächlich 
eine 
gebogene
 vision 
haben.
 die 
erfindung 
des 
flachen 
spiegels 
kam
 später. 
deshalb
 auch
 die 
vielen
 umwege
 bevor 
es 
zum 
monofokalen 
fluchtpunkt 
kam. 
es 
ging 
darum, 
dem 
menschen 
einen 
monolithischen, 
festen 
platz 
im
 anbetracht
 des 
objekts 
zu 
schaffen, 
sagt 
arasse.



also,
 ziel 
bzw.
effekt
 1:
 den
 menschen 
klar 
zu 
trennen 
vom
 objekt
 und
 von
 der 
natur
 und
 ihm 
einen 
privilegierten 
platz 
in
 der 
welt
 zu
 schaffen. 
ziel 
bzw. 
effekt 
2: 
die 
kunst, 
dessen 
ziel
 es
 ist, 
die
 natur 
zu 
imitieren,
 einen 
klaren 
kanon 
zu 
geben. 
die
 erfindung
 der 
perspektive
 war 
auch 
sehr
 stark beeinflusst 
von 
der 
kartographie 
in 
florenz.
 paolo
 toscanelli 
schreibt
 an
 columbus,
 er 
soll 
nach 
westen 
gehen 
um 
zu 
schauen,
 ob
 da
 was 
ist, 
und
 gleichzeitig 
schreibt
 er
 einen 
traktat 
über 
die 
 perspektive. 
mit
 malewitschs
 "weißes
 quadrat 
auf
 weißem
 grund" 
ist 
finito 
mit 
der 
perspektive. 
aber 
diese 
konstruktion
 wird
 dann
 mit 
dem 
zyklopenauge
 der 
kamera
 weitergeführt 
bis 
heute. 
so 
ist
 meine
 sicht 
auf 
“holding
 hands” (2) 
und 
“self
 unfinished” (3) 
als 
mono‐fluchtpunktstücke, 
weil 
sie 
mit 
der 
videokamera
 als 
"outside 
eye" 
gemacht
 sind, 
sogar 
historisch
 gefüttert. 
auch 
meine 
interpretation 
von 
"un 
après‐midi" (4) 
als 
landschaftliches 
perspektivstück 
mit 
zwei 
fluchtpunkten. 
 "un 
après‐midi" 
wäre 
so 
ein 
bisschen 
wie 
absurdes 
analoges 
3D 
kino, 
die
 sehnsucht,
 unsre 
binokularität 
miteinzubeziehen
 - also
"pina" 
(5) 
analog 
:‐).
und
 “for 
faces” (6) 
dann... 
als 
explosion 
der 
augenpunkte 
und 
gesichtspunkte, 
dann. 
oder 
als
 fouquets 
sich 
drehende
 konvexe 
perspektive.






aber 
wie 
verhalten
 sich 
all 
diese
 stücke
 zur
 mimesis?
 sie 
versuchen
 alle, 
die 
"natur 
zu 
imitieren",
 sogar 
ganz 
naturalistisch
 (und
 eben
 nicht 
stilisiert 
wie 
bei 
noverre, 
oder 
realistisch
 wie 
bei 
brecht). 
und 
gleichzeitig 
imitieren 
sie 
gar 
nichts 
sondern
 stellen 
nur 
etwas
 dem 
blick 
des 
betrachters 
zur 
verfügung.
 die 
performer_innen 
tun 
nicht
 "als 
ob". 
sie 
sind
 musiker_innen
 (7) .
sie 
spielen 
ihre 
gesichter
 nicht
 wie
 schauspieler_innen, 
sondern 
wie 
musiker_innen 
ihre 
instrumenten 
spielen. 
und 
 doch 
ist 
der 
effekt 
davon 
teilweise 
illusionistisch.


manche 
zuschauer_innen
 haben
 die 
illusion, 
dass 
sie 
angeschaut 
werden 
oder 
auf 
sie 
reagiert 
wird, 
obwohl 
lediglich 
ein
 tanz, 
eine 
bewegungsabfolge 
vor 
ihren 
augen 
ausgeführt 
wird.
andrerseits, 
könnten 
wir 
einwenden,
 geht 
es 
darum 
WIE
 diese 
bewegungsabfolge
 ausgeführt, 
die 
partitur 
interpretiert
 wird.
 und
 da 
schwingt 
empathie, 
ansteckung 
(tanz 
ist
 ansteckend) 
mit. 
die 
ausführung 
ist 
nicht
 rein 
mechanisch. 
sie 
ist 
persönlich. 
und 
sie 
findet 
im 
moment
 der 
aufführung 
statt,
 beeinflusst 
von 
der 
spezifischen 
person, 
die 
da 
heute
 abend
 im
 publikum
 sitzt. 
die 
ausführung 
der 
bewegungsabfolge 
ist
 durchlässig. 
"hindurchsehen", 
"hindurchschauen": 
was 
sagt 
das 
grimm
 dazu 
(das 
deutsche 
grimmsche 
wörterbuch)?
 und
 was 
sagt 
monsieur
 grimm
 zur 
grimm-masse?





oh 
jemine 
das 
ist 
eine 
masse 
an 
neuen
 gedanken,
 wo
 wir 
doch 
grad 
KÜRZEN 
WOLLTEN!!!!! 
sorry 
sorry 
sorry 
lag 
mir 
nur 
so
 sehr 
auf 
der 
zunge.




was
 wir 
noch 
sagen 
sollten, 
irgendwo: 
die 
körperliche 
situation 
der 
zuschauer_in
 und 
der 
performer_in 
in 
"for 
faces" 
ist
 fast 
identisch. 
beide 
sitzen 
und 
schauen. 
die 
einen
 schauen 
aus 
und 
die 
andren 
zu. 
die
 aktivität 
der 
augen
 ist 
das
 verbindende - 
und
 trennende
 - 
element 
zwischen 
beiden. 
das 
ist 
für 
mich 
der 
kern 
von 
"for 
faces".






noch 
ein 
paar 
notizen:


die
 coda
 (teil 4) 
ist 
dann 
das 
leben 
als 
grimassenpartitur. 
bzw. 
in 
bologna
 (das 
letzte 
gastspiel 
von 
"for 
faces" - 
unplugged
 version) 
kam
 es 
mir
 so
 vor, 
als 
habe 
das 
publikum
 in 
teil 
1
 bis 
3, 
den
 teil 
4 
selbst 
performt, 
und
 dann
 in
 teil 
4 
hat 
es 
sich
 umgedreht. 
die 
gesichter 
des 
publikums 
hatten 
so 
viele 
ticks
 und
 fratzen 
und
 zerknautschte 
ausdrücke, 
das
s sie 
alle
 wie
 grimassen
 aussahen,
 bis 
sie
 sich
 in
 teil 
4 
im 
lächeln
 und
 lachen 
auflösten.
 so 
wurde 
die 
coda 
(teil 4) 
zu 
einem
 portrait 
des
 publikums.
 auch 
klanglich 
haben 
sie 
die 
coda 
performt 
während 
des 
stücks! 
gestöhnt, 
geschluckt, 
geschmatzt.



in 
wie 
weit 
wird
 in
 “for 
faces”
 das 
leben 
illusionistisch 
imitiert , 
so 
dargestellt, als 
sei 
es 
das 
echte 
leben, 
und 
in 
wie 
weit
 wird 
das 
echte 
leben 
in 
“for 
faces” 
einfach 
ausgestellt? 
die 
gesichter 
werden
 dahin 
gestellt, 
der 
betrachter_in 
zur
 verfügung 
gestellt. 
(aber 
das 
habe 
ich
 schon
 gesagt, 
glaube 
ich?)


 

à 
bientôt!!!!!!!!!


ganz
 liebe 
bisessss,


anton


 

postskriptum:


"The
 only
 thing 
that 
is 
different 
from
 one
 time
 to
 another 
is
 what
 is 
seen 
and
 what 
is 
seen
 depends 
upon 
how 
everybody
 is
 doing 
everything. 
This 
makes 
the 
thing 
we 
are 
looking 
at 
very 
different 
and 
this 
makes 
what 
those 
who 
describe 
it 
make 
of
 it, 
it 
makes
 a 
composition,
 it 
confuses,
 it 
shows, 
it 
is, 
it 
looks, 
it 
likes 
it 
as 
it is, 
and 
this 
makes 
what 
is 
seen 
as 
it 
is 
seen. 
(...)
 The 
composition 
is 
the 
thing
 seen
 by
 every
one
 living
 in
 the
 living 
they 
are 
doing, 
they 
are 
the 
composing 
of 
the composition 
that 
at 
the 
time 
they 
are 
living 
in 
the 
composition 
of 
the 
time
 in
 which 
they 
are 
living. 
It 
is 
that 
that 
makes
 living
 a
 thing
 they
 are
 doing.“



–
 Gertrude
 Stein, 
"Composition 
as 
Explanation"


 

 

1
 Daniel
 Arasse,
 "Histoires 
de 
peintures", 
Paris, 
2004


2 
"Holding 
Hands",
 ein 
Duett 
von 
Antonia 
Baehr, 
mit 
William
 Wheeler
 und
 Antonia 
Baehr, 
2000 
uraufgeführt. 
Das 
Stück 
ist 
Teil 
einer
 Emotionstrilogie, 
zusammen
 mit
 "Un 
après‐midi" 
(2003) 
und 
"Lachen"
 (2008).
 In
 den 
fünfunddreißig 
Minuten
 von 
"Holding
 Hands"
 halten
 die 
beiden 
Performer_innen 
durchgehend
 Händchen 
und 
bewegen
 sich
 nicht
 von
 der
 Stelle. 
Sie 
stehen
 frontal 
zum
 Publikum.
 Sie
 performen 
unisono 
die 
Emotionspartitur
 von 
Maria 
Callas
 in 
der 
Arie 
"Tu 
che 
le 
vanita"
 von
 Verdi, 
in 
mehreren
 Variationen.
 Lange
 Strecken
 bestehen
 aus
 einer 
mikrochoreographischen
 Abfolge 
von 
Gesichtsausdrücken
 und 
Kopfbewegungen.
 "Holding 
Hands" 
wurde 
am
 Künstlerhaus 
Mousonturm 
im 
Rahmen
 von 
Plateaux 
2002 
aufgeführt.


3
 "Self 
Unfinished", 
ein 
Solo 
von 
und 
mit 
Xavier 
Le 
Roy, 
1998 
uraufgeführt


4 
"Un 
après‐midi", 
ein 
Quartett 
von 
Henry
 Wilt 
und
 Antonia
Baehr. 
"Un 
après‐midi"
 ist
 ein 
landschaftsartiges 
Stück 
zu 
"Prélude
 à
 l'après‐midi 
d'un 
faune"
 (Mallarmé/Debussy/Nijinski) 
auf
 der 
Basis 
von 
verschachtelnten 
Partituren.
 Vier 
Drag 
Kings 
performen
 ohne
 vorangehende
 Probe
 Anweisungen
 über 
Mini‐Disk
 Playern 
und 
Kopfhörern. 
Dabei 
erhalten 
jeweils 
zwei 
Paare
 überwiegend 
dieselben
 Anweisungen.
 Die 
beiden
 Paare 
führen 
die 
Anweisungen 
zeitgleich
 aus,
getrennt
 von
 einem
 Paravent, 
die 
die 
Bühne
 in
 zwei 
gleichen
 Hälften 
durch 
ihre 
Mitte 
teilt. 
"Un
après‐midi 
#7"
 wurde 
am
 Künstlerhaus 
Mousonturm 
aufgeführt 
(Internationale 
Sommerakademie
 2004)


5 
"Pina", 
ein 
Film
 für
 Pina
 Bausch
 von 
Wim
 Wenders 
in 
3D, 
2011


6
 "For 
Faces", 
ein 
mikrochoreographisches 
Quartett 
für 
das 
Gesicht
 uraufgeführt 
im
 November
 2010, 
von 
Antonia 
Baehr. 
Das 
Publikum
 sitzt 
in 
einer 
Rauminstallation 
im 
Kreis 
um
 die
 vier 
Performer_innen 
herum. 
"For 
Faces"
 ist 
sechzig
 Minuten
 lang
 und
 in
 vier 
Teile
 gegliedert, 
die 
von 
tiefen 
Blacks 
umrahmt
 sind. 
In
 jedem
 der 
vier
 Teile 
sitzen 
die 
Performer_innen
 in
 andrer
 Konstellation 
zueinander.


7 
Die 
Interpret_innen 
von 
"For 
Faces" 
sind 
Sabine 
Ercklentz, 
Andrea 
Neumann, 
William 
Wheeler 
und
 Arantxa 
Martinez.
 Sabine
 Ercklentz
 und
 Andrea
 Neumann 
ist 
ein 
Musikerinnen 
Duo. 
William
 Wheeler 
und 
Arantxa 
Martinez
 sind
 sowohl 
Musiker_innen 
als 
auch
 Tänzerin/Choreographin
 (Arantxa
 Martinez)
 und
 Performer/bildender 
Künstler 
(William
 Wheeler).