Wenn der Körper eine Stummheit ist
Das neue Tanztheaterstück von Birgitta Trommler am Staatstheater Darmstadt
Der eiserne Vorhang im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt ist einen Spalt weit geöffnet. Nur Beine und Füße sind zu sehen wie sie hektisch hin und her laufen. Schicke Damenschuhe stoßen auf der Straße des Lebens mit eleganten Herrenhalbschuhen zusammen, Beine reiben sich aneinander, ein Rocksaum schwingt nach, während die Füße schon die Gehrichtung gewechselt haben. Ein paar modische Turnschuhe mischen sich unter das bunte Treiben, und irgendwo werden ein paar Damenbeine übereinander geschlagen, gerade so, als hätte der dazugehörige Körper auf einem unsichtbaren Stuhl Platz genommen. Wenn der Vorhang sich hebt, kehrt sich der Blick um. Nicht mehr wir sind die Eingesperrten, an denen das Leben da draußen vorbeiläuft. Für die restliche Zeit der Vorstellung blicken wir hinein in eine Gefängniszelle und in das Innenleben ihrer Insassin.
Für ihr neues Tanztheaterstück „Wenn der Körper eine Stummheit ist“ haben sich Birgitta Trommler und Regina Heidecke, die für das Konzept mitverantwortlich zeichnet, mit der Situation von lebenslänglich Inhaftierten auseinadergesetzt. Als Vorbild diente ihnen die in Frankfurt/Preungesheim einsitzende ehemalige Terroristin Eva Haule. Doch das spielt in dem Stück eigentlich keine Rolle. Gudrun Schretzmeier hat die Seiten der Bühne mit hohen Gittern versehen und die Brücke hoch oben unter dem Schnürboden zu einer Wachplattform umfunktioniert, auf der immer wieder zwei Gefängniswärter auf- und ab patrollieren. Unten auf dem Boden befindet sich zwischen zwei weißen Klebebändern der schmale Aktionsraum der Protagonistin. Die Tänzerin Amelia Poveda kniet darin, ihr Oberkörper fällt nach vorne über und schnellt nach hinten zurück. Zur Seite gekippt, dreht sie sich mit angewinkelten Beinen um die eigene Achse. Eine ganze lange Weile können wir ihr Gesicht, von den wild fliegenden Haaren verdeckt, nicht sehen. Doch plötzlich bäumt sie sich auf und schlägt mit ihrer rechten Hand auf ihr pochendes Herz.
Es ist die einzige Szene, in denen der Körper etwas erzählt. Von Angst und Beklemmung, von Verzweiflung, Zorn und Wut. In der restlichen Stunde ist er tatsächlich zu einer Stummheit geworden. Und mit ihm schweigt der Tanz. Denn was auf der Bühne erzählt wird, vermittelt sich über das stumme gestische Spiel der Darsteller, die kurzen Textpassagen, die Sigrid Schütrumpf als ältere Hälfte der Protagonistin spricht, oder aber durch die Musik von David Moss und Ali N. Askin. Das laute schlagen der Gittertüren, das sie mit Halleffekten vergrößert haben und das im Kopf der Tänzerin zu einer bedrohliche Phantasmagorie anschwillt, dient ihnen dabei als Grundlage. Vor dem eisernen Vorhang, der die Bühne nach hinten begrenzt, haben die sechs Musiker Platz genommen: ein Streichquartett für die lyrischen Passagen, die jedoch rasch wieder ins Dissonante kippen, und eine Gitarre für die zarte Hoffnung auf Freiheit. David Moss begleitet die beiden Solistinnen mit seinem Scat-ähnlichen Gesang, nimmt ihre Sätze und Gedanken auf, variiert und moduliert sie und wechselt dabei die Stimmlagen ebenso rasch wie die Tänzerin die Gefühlslagen.
Die Inszenierung von Birgitta Trommler hält den schmalen Grat zwischen Neugier und Distanz, ohne in falsches Mitleid oder in selbstgefälliges Anklagen zu verfallen. So ist ihr ein überraschend konzentriertes Stück gelungen, bei dem wenig von der Beobachtung der beiden Hauptdarstellerinnen ablenkt. Mit schönen Bildern, etwa wenn Amelia Poveda aus einer Luke im Bühnenboden mit einem riesigen weißen Kleid auftaucht, spürt sie der Phantasie ihrer Heldin nach, nur um sie bald darauf mit der harten Realität zu konfrontieren. Am Schluß regnet es weiße Briefumschläge, in denen weiße Stofftücher verpackt sind, aus dem Schnürboden. Während Sigrid Schütrumpf, begleitet von David Moss, ihr innere Freiheit als Stärke behauptet, klebt das Ensemble mit den Stofftüchern ein Fenster zu und verstellt ihr damit den Blick auf die Welt.