Meg Stuart – Ein Hyperporträt
Ich lernte die Arbeit von Meg Stuart und Damaged Goods zuerst wahrscheinlich im Herbst 1995 kennen. Es handelte sich um eine Vorstellung von No One is Watching im Stadttheater Löwen. Der Titel legt nahe, daß Stuart und die anderen Interpreten nicht sahen, daß ich im Saal saß, beziehungsweise sie taten zumindest so, als ob sie mich nicht gesehen hätten. Ich persönlich kann mich beim besten Willen nicht an das Stück erinnern, vielleicht schaute auch ich, trotz meiner Anwesenheit im Saal, nicht zu. Eine etwas seltsame verpaßte Gelegenheit, mit unvermuteten theatralischen Dimensionen, über deren Bedeutung ich mir nie Gedanken gemacht habe. Gab es Zeugen?
An meine erste Begegnung mit Meg Stuart erinnere ich mich hingegen sehr wohl. Anläßlich von Highway 101 traf ich sie zu einem Interview in den Studios des Brüsseler Kaaitheaters. Wir zogen uns in eine Ecke der Büros im ersten Stock zurück, weil das übrige Gebäude fast vollständig von Darstellern und Technikern vereinnahmt worden war, die mit der Vorbereitung der Vorstellung sehr beschäftigt waren. Die Ecke war nicht ganz so ruhig, wie wir gehofft hatten, rauschend drang von draußen Lärm in den Raum. Überdies trennte eine Glaswand die Büroräume vom übrigen Gebäude. Passanten konnten ins Büro schauen. Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich betrachtet wurden. Auf jeden Fall war das Interview gewiß eine Performance. Eine Choreographin, die sich als Choreographin ausgibt, die über ihre Arbeit spricht. Ein Journalist, der seine Rolle als Interviewer und Tanzkritiker spielt. So vertraut, alltäglich und menschlich es auch sein mag, in den Augen anderer zu leben, diese Performance entging mir ebenfalls.
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Bei einem Künstlertreffen zum Thema The Terminal Spectactor gab Meg Stuart im August 2001 eine Lesung-Performance. Sie erzählte Anekdoten, Vorfälle am Rande ihrer Vorstellungen, Geschichten über ihr Verhältnis zu den Zuschauern. No One is Watching bezog sich demzufolge offensichtlich auf Stuarts Fantasien als Kind: Zusammen mit ihren Freunden und ihrer Familie spielte sie ständig in einem Film, der in einem Saal ohne Zuschauer vorgeführt wurde. Sie wäre liebend gerne aus dem Film geflohen, um ihn sich anschauen zu können. Gleichzeitig wurde sie von ihrer Mutter in genau den Augenblicken, in denen sie vor sich hinträumte, ermahnt, aufmerksamer und präsenter zu sein. Daraufhin übte Stuart, wie sie im Film besser spielen konnte. Das alles wuchs sich zu einer hyperbolischen Alltäglichkeit aus. Ihre gespielte Anwesenheit konnte nie deutlich genug sein. Auch dann versuchte sie noch immer zu fliehen, um sie gleichzeitig betrachten zu können.
Das zwingende, wenn auch unmögliche Verlangen, sich selbst zu beobachten, bewirkt im Werk von Meg Stuart und Damaged Goods eine Art von Hyperrealismus mit zwei parallel laufenden Stilfiguren, die sich manchmal auch miteinander verknüpfen. Bei der ersten handelt es sich um die bereits erwähnte hyperbolische Alltäglichkeit, eine Art von Überreaktion, um sich nachdrücklich als ein Bild zu verwirklichen, ein imaginäres Ich im Film vom Leben. Bei der zweiten handelt es sich um eine übertriebene Verwendung von Medien, die die Rolle einer Prothese des eigenen Blicks spielen: Zum Beispiel kann eine Glaswand oder eine Überwachungskamera an die Stelle eines Betrachters treten. Auf diese Weise kann der Darsteller plötzlich in mehreren Medien gleichzeitig anwesend sein, sogar in mehreren Räumen, in mehreren technologischen Perspektiven. Das Ich wird allgegenwärtig, wodurch auch die Fiktion, daß es sich selbst beobachten kann, explodiert.
Kein Weg führt an all diesen fremden Blicken vorbei. In ihrem Solostück I'm all yours (2001) erzählt Stuart mit leicht theatralischer Ironie, fast so als würde sie verhört, über sich selbst. Allerhand Gedanken, die ihr gerade einfallen, werden als unzusammenhängende Textfragmente mitgeteilt, zum Beispiel „This shirt is second hand“ oder „I‘ve only been raped once.“ Fast achtlos liefert sie sich dem Publikum aus, sie versucht, alle auf sie gerichteten Blicke mit Worten abzuwehren. Sie spielt mit den Blicken der anderen, sie spielt mit den Fantasien, die ihre Blicke entfachen, sie spielt sich selbst, bis sie allmählich in Hunderte von Rollen zerfällt, in denen sie sich verirrt.
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Jedesmal wenn ich Meg Stuart treffe, fällt mir ihre Unrast auf. Sie kann keinen Augenblick stillsitzen. Ihr Körper will sich bewegen, hat hyperkinetische Neigungen. Auf der Bühne verdichtet sich dieser Bewegungsdrang zu choreographischen Figuren. Er taucht dort auch in heftigerer, vergrößerter Form auf. Die Körper von Meg Stuart und Damaged Goods platzen vor lauter Energie. Ungemein physisch und ungebremst bricht sie hervor. Die Körper bewerkstelligen manchmal sogar Exzesse, die man nur schwer als theatralisch bezeichnen kann; ich denke in diesem Zusammenhang an die Sport- und Kampfszenen in ALIBI (2001).
Hyperrealismus. Hyperbolisch. Hyperkinese. Ziemlich unbewußt hat sich das Präfix „hyper-“ in meinen Gedankengang eingeschlichen. Vielleicht ist das unvermeidlich, wenn man über Werke schreibt, die ständig die Grenzen des Möglichen sprengen, um auf die Manien aufmerksam zu machen, mit denen Menschen versuchen, ihren Körper und Geist zu kontrollieren. Ich schaue im Niederländischen Universalwörterbuch Van Dale nach. Das Wort besteht auch als Substantiv: „hyper [griech. hupér (jenseits einer bestimmten Grenze), ~ lat. super], 1. spannungsreicher Zustand mit viel positiver (kreativer) Energie, aber auch mit viel Stress: viele Werbefachleute sind ständig hyper; 2. besonders spektakuläre, mitreißende Werbung (die eine euphorische Begeisterung für ein Produkt bewirkt).“ Beide Begriffsumschreibungen treffen zu. Im Studio, wo während einer langen Periode sehr intensiv gearbeitet wird, bemerkte ich sowohl positive Energie als auch Stress. Die spektakuläre, mitreißende Reklame erinnert mich an ein Gespräch, das ich einmal mit Stuart aufgenommen habe. Wir redeten über die Transformation und über „morphing“. Stuart definierte die „Geschwindigkeit“ des Mediums Tanz als Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit ganz unterschiedliche Bilder und Erfahrungen miteinander zu kombinieren. Sie sagte: „Das ist etwas anderes als butoh, wo man sich zum Beispiel einbildet, ein Felsen zu sein. Es handelt sich viel eher um den Wunsch, ein Bild zu sein, und andererseits auch wieder kein Bild zu sein, so etwas wie ein billboard.“ Ihre Auffassungen über Identität widerspiegeln das: „Ich betrachte mich nicht mehr als ein bestimmtes Wesen. Ich schneide Teile meiner Identität aus ihrem Kontext.“
Dieses Spiel mit der Identität und der Manipulation des Ichs kommt deutlich im reinen Tanzstück soft wear (2001) zum Ausdruck. In diesem Solo verändert sich Stuarts Körpersprache ständig: Ein vertrautes Antlitz verformt sich zu einer obszönen Grimasse, ein seltsames Bild, das auf die Haut geklebt zu sein scheint und plötzlich eine immense Distanz zum Zuschauer bewirkt. Und dann verändert sich das Bild weiter, als sei es in einen Strudel geraten, als ob die ganze Welt daran zerre. Ständig wird der tanzende Körper von seiner Umgebung, von einer explosiven, nicht zu zähmenden Wirklichkeit angesprochen oder genauer gesagt angefaßt. Hyperästhesie, Überempfindlichkeit. Ein tragischer Körper, der nie schnell genug tanzen kann, um zurückzublicken, während er genau in diesem Rückblick lebt.
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Als Interviewpartner kann Meg Stuart sehr schwierig sein. Reden fällt ihr nicht leicht. Während ihr Geist in solchen Augenblick auf Hochtouren arbeitet und deutlich sichtbar Gedanken produziert, kann sie die nur mühsam in Worte umsetzen. Im Studio entsteht bei Improvisationen eine Flut von Ideen, Bildern und Material, die Besprechungen während der Pausen sind jedoch eher kurz, weil die Worte fehlen. Dabei ist jede Entscheidung, die Stuart fällt, besonders zutreffend. Ich stelle mir manchmal die Frage, ob sie in Bewegungen oder in Bildern denkt?
Ich besuche eine Probe von Visitors Only (2003) und stelle fest, wie stark wir uns alles in visuellen Begriffen vorstellen. Arbeitet das Gehirn wirklich auf diese Weise? Der Literatur, die im Studio herumliegt, entnehme ich, daß neurochemische Impulse die Wahrnehmungen im Gehirn als ein Bündel kodierter Nervenverbindungen speichern. Die Akkumulation von Erfahrungen verstärkt diese Verbindungen, überflüssige Informationen werden systematisch vergessen. Darüberhinaus stellt sich heraus, daß Perzeption, Halluzination und Fantasie eine vergleichbare Struktur aufweisen, lediglich am Kontext, in dem sie auftauchen, läßt sich ihr Stellenwert ablesen. Selbst dann sind Sprache oder Bilder nicht unbedingt eine adäquate Übersetzung dieser Beziehung, die unmöglich beobachtet werden kann. Hypermnesie heißt eine abnormale Steigerung des Gedächtnisses. Bewirkt das eine übertriebene Tätigkeit des Gehirns, ein Ertrinken in der eigenen Vorstellungswelt, die so sehr überläuft, daß sich die Hierarchie aller gespeicherten Erinnerungen unabhängig von ihrer Herkunft auflöst?
Wie dem auch sei, diese Metapher umschreibt hervorragend den Zustand, in dem sich das Studio nach fast vier Monaten künstlerischer Erkundungen befindet. Die zahllosen, aufgestapelten Bücher, Videokassetten, Fotos, Internetausdrucke und allerhand Krimskrams sind eindrucksvoll. Genau dieses anscheinend maßlose Chaos ist typisch für die Arbeitsweise von Meg Stuart und Damaged Goods: Ein Zeitungsfoto, ein Horrorfilm der Serie B, eine wissenschaftliche Abhandlung, eine anthropologische Dokumentation, eine Meditationsstunde mit einem Schamanen, ein Poster eines Filmstars...: Zwischen den unterschiedlichsten Quellen bestehen Bezüge, die einem Hypertext gleichen oder einer Reihe zufälliger und dennoch vielsagender Schlaufen. Auf diese Weise entstehen während des Arbeitsprozesses zusätzliche Mengen Ideen und Material: In den Köpfen und in den Körpern der Darsteller und der anderen Mitarbeiter, im Probenstudio, überall entspinnen sich mögliche Szenarios, mögliche Welten. Der Hypertext verzweigt sich schließlich weiter auf der Bühne und vor allem in den Blicken und Gedanken der Zuschauer. Als grilliges und explosives Assoziationsfeld revoltiert er gegen unsere säuberlich geordneten Gedanken und Gewohnheiten. Wer schaut sich das an?
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Während ich meinen Text nachlese, kommt aus dem Radio Björks Hyper-Ballad. Eine weitere Schlaufe:
"We live on a mountain
Right at the top
There's a beautiful view
From the top of the mountain
Every morning I walk towards the edge
And throw little things off
Like:
Car-parts, bottles ans cutlery
Or whatever I find lying around.
It's become a habit
A way
To start the day.
I go through all this
Before you wake up
So I can feel happier
To be safe up here with you.
It's early in the morning
No-one is awake
I'm back at my cliff
Still throwing things off
I listen to the sounds they make
On their way down
I follow my eyes 'til they crash
Imagine what my body would sound like
Slamming against those rocks.
When it lands
Will my eyes
Be closed or open?"