Kuessen gibt's hier nicht
Wim Vandekeybus zeigt sein Tanzstück "Blush" im Frankfurter Künsterlaus Mousonturm
Als nackter Märchenprinz mit goldener Krone tanzte er 1984 in Jan Fabres Mammutwerk „Die Macht der theaterlichen Torheiten“ mit seinem Ebenbild ein Duett. Streng geführt drehte Wim Vandekeybus als fleischgewordener Wunsch seine Kreise auf der Bühne, über deren Bretter kurz zuvor noch eine Schar von Fröschen hüpfte und sprang. An die Wand geworfen wurden die grünen Tierchen damals nicht, wie es die Prinzessin im Märchen vom „Froschkönig“ getan hatte, dafür aber mit weißen Laken eingefangen und zertreten.
Frösche tauchen auch in Wim Vandekeybus’ neuem Tanzstück „Blush“ auf, das Jan Fabres unerbittliche Körperlichkeit teilt. Es ist Vandekeybus’ fünfzehntes Stück in eigener Regie, seit er 1987 mit seinem akrobatischen „What the Body Does Not Remember“ auf der europäischen Tanzszene einschlug wie eine Bombe. Im Frankfurter Mousonturm hält eine blonde Tänzerin einen zappelnden Frosch an einem Bein vor ihren Mund, als wolle sie die Kröte wirklich schlucken. Doch bevor es dazu kommt, nimmt ihr ein Tänzer, Wim Vandekeybus selbst, das Tier aus der Hand, wirft es in einen Mixer und verquirlt es zu einem bräunlichen Getränk, das er der blonden Schönheit reicht, die das Glas prompt austrinkt, als solle die Kraft des Tiers als Aphrodisiakum in sie übergehen. Liebe hat für Vandekeybus nichts mit roten Rosen zu tun, dafür um so mehr mit chemischen Reaktionen im Gehirn, Hormonen und Pheromonen. In Wim Vandekeybus’ Welt ist auch der Mensch nicht mehr als ein Tier, wild und ungestüm, instinktiv und triebhaft, aber voller Schönheit und Würde.
In „In Spite of Wishing and Wanting“ hatte er eine Gruppe Männer mit ihren Ängsten konfrontiert. In „Scratching the Inner Fields“ arbeitet er nur mit Frauen. Für „Blush“ führt er die beiden Geschlechter nun zusammen und läßt sie gegeneinander antreten. Fünf Frauen und fünf Männer peitschen ihre Körper über die Bühne, jagen sich, lassen sich hetzen, rollen, gleiten, werden hochgeworfen und stürzen zu Boden, im Duo oder Trio, Kopf gegen Kopf, Schulter an Schulter, aggressiv und immer auf Konfrontation ausgerichtet. Manchmal müssen die fünf Frauen auch auf die fünf Metallstangen klettern, um sich vor den Männern in Sicherheit zu bringen. Doch Männer und Frauen stehen sich in ihrer Energie und ihrem Verlangen in nichts nach. „Küssen gibt’s hier nicht“, rufen die Tänzer einmal einem Paar zu, das sich gerade zärtlich einander zuwendet.
In „Blush“ geht es heftig zu, und manchmal muß man dabei sogar erröten, wie es der Titel will. Denn das Stück testet nicht nur die Grenzen der physischen Belastbarkeit der Tänzer, sondern auch die Grenzen der Darstellbarkeit von Sexualität. Schon gleich zu Beginn zieht eine Tänzerin im Dämmerlicht der Bühne ihrem Slip aus, öffnet die Hose eines schlafenden Tänzers, dessen Schnarchen das Theater erfüllt, und setzt sich breitbeinig auf sein Geschlecht. Später betten zwei Männer eine Frau auf Kissen und beginnen, sie am Bauch und zwischen den Beinen zu massieren. Dabei spricht sei einen poetischen Text des belgischen Dichters Peter Verhelst. Immer wieder springen Tänzerinnen ins Publikum und bitten um Geld, damit sie für den zahlenden Zuschauer tanzen können.
„Blush“ besteh neben einem Prolog und Epilog aus drei Teilen, einem weißen, einem schwarzen und einem roten. Eine in Streifen geschnittene Leinwand vor der Bühnenrückwand zeigt Unterwasseraufnahmen. Doch plötzlich springen die Tänzer ins Bild, was einem Eintauschen ins Wasser gleicht, wo sich ihre Körper mit Delphinen tummeln. Nach gut fünfundvierzig Minuten kommt das Stück beinahe zum Stillstand. Schwarze Taschen werden vor die Leinwand gestapelt, und die Tänzer ziehen sich schwarze Anzüge, Kleider und Kopftücher an. Wenig später stürzt die Wand ein, nur um ein ähnliches Kofferbild als Projektion auf der Leinwand freizulegen. Körper schieben sich ins Bild. Aus der Vogelperspektive aufgenommen, sehen sie aus wie herumwuselnde Maden. Plötzlich regnet es Frösche, und das Bild wechselt zu einer grünen Gras- und Schilflandschaft. In roten Hemden und Kleidern hetzen die Tänzer nochmals über die Bühne, bevor sie zu den satten Gitarrenklängen und dem gebrochenen Gesang des belgischen Musikers David Eugene Edwards und seiner Band 16 Horsepower erschöpft ihre Kleider aufsammeln. Eine tief heruntergelassene Lampe kreist einsam um die Bühne und blendet dabei die Zuschauer.
Nach den zahlreichen hochintelligenten Miniaturstücken, die die Tanzszene in den letzten Jahren dominierten, macht es wieder einmal richtig Spaß, mit Wim Vandekeybus zwei Stunden lang aus den Vollen zu schöpfen. „Blush“ verbindet Tanz, Video, Musik und Sprache zu einem ebenso gewagten wie packenden Tanzabend.