Sich am Sozialen reiben
Über Do Animals Cry von Meg Stuart und Damaged Goods
In Do Animals Cry verhandeln sechs Personen die Rollen einer traditionellen Familie und wechseln dabei ständig die Perspektive und nehmen andere Positionen ein – sie schlüpfen dabei in und aus dem Einflussbereich der Familie. Die Figuren präsentieren sich uns durch Spitznamen – die meisten sind nicht unbedingt schmeichelhaft, denn diese Namen werden tatsächlich von anderen vergeben. Der soziale Raum ist erfüllt von Konventionen und Erwartungen, die Wege für Menschen bahnen, damit diese sich bewegen und in akzeptabler Weise interagieren können, die aber genauso an ihren Körpern als fremde Energien haften bleiben. Zum Beispiel die vielen Szenen, in denen sich eine Familie um einen Tisch versammelt. Wie soll ein Handlungsablauf überwunden werden, der in erstickender Weise vertaut ist? Ob dies nun die Rollen betrifft, die wir in unserem Alltag spielen oder die Namen, mit denen wir unsere multiplen Selbst bezeichnen: Immer bewegen wir uns in einem Raum, der bereits von anderen bewegt wird. Wie gehen wir damit um? Wie brechen wir das Muster und transformieren die Rituale? Wie entfernen wir uns von dem, was wir als „normal“ identifizieren? Wie machen wir uns Vieldeutigkeit und ein lebhaftes Vorstellungsgefühl zu eigen? Meg Stuart und Damaged Goods versuchen, die Familienkonstellationen als soziale Choreografie von allen Seiten zu zerlegen.
In der Mitte des Stückes Do Animals Cry betritt ein Outsider die Bühne, die bis zu diesem Zeitpunkt choreografisch und im Hinblick auf die familiären Beziehungen klar abgesteckt ist. Wie bei Pasolinis Teorema geraten die Dinge plötzlich aus den Fugen und drehen sich manchmal wie wilde Spiralen ohne Zusammenhang, als dieser Fremde erscheint. Wer ist dieser Outsider? Was sieht er und was fühlt er? Was ist mit seinem engelhaften Benehmen? Ist er vielleicht für die weltlichen Energien immun, die die Körper der anderen Figuren durchdringen? Als ZuschauerInnen wird uns ein neuer Zugang zu dieser Welt gewährt, die erfüllt ist von Wiedererkennen und Alltäglichem. Wir sind eingeladen, die Identifikation aufzulösen und ebenfalls zu Beobachtenden zu werden – erst zwei, dann viele, zu einer Menge von Fremden oder zu multiplen Familien an der Arbeit an uns selbst. Wir sind eingeladen, unsere Arme gemeinsam mit dem Außenseiter zu bewegen und den Raum abzutasten, langsam unsere Glieder und Körper in ein unbekanntes sensorisches Organ umzustimmen, das ätherische Energien empfängt, welche unseren Augen entgangen sind.
Der Fremde bringt jeden in einen Zustand der Erregung, eine hyperventilierende Gruppe, die springt, sich umarmt und aneinander reibt. Do Animals Cry enthält einen ganzen Katalog von Gesten, die mit sozialer Interaktion und physischem Kontakt zu tun haben: kämpfen, ringen, sich necken, flirten, küssen, sich umarmen und noch einmal, sich aneinander reiben, was durch das ganze Stück hindurch wie ein choreografisches Leitmotiv wiederkehrt. Wiederholt mit physischer Distanz bleiben diese Gesten ohne Aufforderung, die DarstellerInnen greifen an ihre Seite oder in ihren Rücken, tappen in die Luft, spüren etwas im Raum nach – auf der Suche nach abwesenden Präsenzen wie Erinnerungen oder Sehnsüchten. Sie oszillieren zwischen dem Alltäglichen und choreografischer Abstraktion, zwischen Berührung und Distanz, wobei das Reiben als Schalthebel oder Wendepunkt dient. Als Verbindung von Intimität und Friktion verkörpert das Reiben die Ambiguität des Kontakts in einer einzigen Handgeste.
Indem sie den Raum abtastet und allen unterschiedlichen Elementen in der Umgebung gleich viel Aufmerksamkeit schenkt, betrachtet Meg Stuart den tanzenden Körper „als einen Container, der Signale wie auch Identitäten und Energie kanalisiert und überträgt. Bewegung ist ein Weg, wie das angesammelte Input gefiltert und entwickelt werden kann.” Von einer Hand die den Raum streichelt, zu einer Energie die gegen den Körper und durch ihn hindurchprallt, wie eine Trance, die idiosynkratische Bewegungen, Gesten, Zustände und Ticks als Nebeneffekt produziert, ablesbar auf der Körperoberfläche – es handelt sich wieder um Reibung, mit seinen doppelten Kräften der Intimität und Friktion, aber jetzt auf einer abstrakteren, choreografischen Ebene.
Entleere deinen Körper von seinen Sehnsüchten nach Bewegung. Nimm die Energie von äußeren Kräften auf; vielleicht ist sie köstlich, vielleicht unangenehm, vielleicht elektrisch, vielleicht kaum wahrnehmbar. Lass die Energie in dich eindringen, überrasch dich selbst, vielleicht lädst du sie ein. Du enthältst die Energie, halte sie, lass sie dich berühren. Du gibst ihr Form. Sie findet Wege durch deinen Körper, bewirkt deine Bewegung, vielleicht verändert sie den Prozess, am Schluss existiert sie. Erlaube verschiedene Ausgänge, vielleicht fließt die Energie ab, schießt heraus, verdunstet. Sei still, warte auf die nächste energetische Kraft, dass sie in dich eindringt. (Meg Stuart)
Kurz vor Ende des Stückes zieht der Outsider Bilanz über die Situation. Seine Arme sind ausgestreckt wie Antennen, und so misst er die Energien, Entfernungen, Hoffnungen und Friktionen, die im Raum und zwischen den Menschen schweben – er leitet die Glieder unserer schwingenden Imagination und erfasst die Spuren eines heterogenen Universums.
Die Zitate von Meg Stuart stammen aus: Jeroen Peeters (Hg.), Are we here yet? Damaged Goods / Meg Stuart, Dijon: Les presses du réel, 2010