Der multiple Mathematiker: Emio Greco
Emio Greco und die Fortentwicklung des Balletts zu einer höheren Geometrie
Fra cervello e movimento, vom Gehirn zur Bewegung – das ist die kürzestmögliche Definition dessen, woran Emio Greco arbeitet. Dieser Übertitel für die ersten beiden Stücke des aus Brindisi stammenden Tänzers und Choreographen faßt auch die Kernfunktion der Kunstform zusammen, von der hier die Rede ist: Tanz ist ein Erkenntnisinstrument durch die Körperbewegung als ästhetische Praxis.
Die Interaktivität zwischen Gehirn und Muskeln, die Energieströme in den Nervenbahnen, die Aktivität und Sensibilität der Organe, besonders der Haut, und die Raumkonzeption des Skeletts sind die materialen tänzerischen Basisfunktionen. In diesen entstehen Erfahrung, Erinnerung, Reaktion, Interpretation und Assoziation als Voraussetzungen für bewußte, reflexive Bewegung.
Die visuelle Analyse jeder noch so einfachen Bewegung durch ihre Zerlegung in Linien, Ebenen und Kurven zeigt den komplexen mathematischen Aufbau des tänzerischen Sprachmaterials.
Emio Greco gibt, nach seinen Interessen neben dem Tanz gefragt, Astrophysik und die damit verbundene Mathematik an. Wen wundert‘s: Seine beiden Solochoreographien ‚Fra Cervello e Movimento – bianco’ und ‚Fra Cervello e Movimento – rosso’ sind von einer gezirkelten Präzision und akribischen Detailhaftigkeit, die von den abgründigen Leidenschaften eines Mathematikers zeugen.
Zwei wichtige Stationen in Grecos Entwicklung sind Rosella Hightower und Maurice Béjart. Das Ballett ist eine Urgeometrie in der europäischen Bewegungskunst. Logischerweise also war Greco bei Béjart leidenschaftlicher Interpret. Wer die Bewegungssprache des 33jährigen heute untersucht, studiert eine der Möglichkeiten, das Ballett zu einer höheren Geometrie weiterzuentwickeln.
Zwei weitere wichtige Stationen: Jan Fabre und Saburo Teshigawara. ‚Fabre’, sagt Emio Greco, „entwickelte in mir das Gefühl für die Bedeutung von Raum und Visualität und öffnete mir die Augen für die verschiedenen Aspekte ein und desselben Elements.“ So wie bildende Künstler fähig seien, Gegenstände aus ganz verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. ‚Die Bedeutung des Raumes hat wieder mit meiner Faszination an der Mathematik zu tun.’ Fabre entwickelte Grecos Schärfe im Lesen der Tableaux und im Setzen klarer Statements im Raum. Dazu komplementär die Arbeit mit Teshigawara: „Er hat mehr mit dem Atem zu tun, mehr mit Erfahrung als mit visueller Konstruktion.“ Teshigawara verbindet die Bewegung vom Boden mit der Luft, dem Fließen des Atems. Er verknüpft die Wirklichkeit surrealistisch mit ihrer eigenen Rückseite.
Bei Teshigawaras Company tanzt Greco als einziger Europäer in ‚I was real – documents’. Die Rückseite dieser Wirklichkeit bilden die beiden genannten Soli, die Greco gemeinsam mit Regisseur Pieter C. Scholten entwickelt hat. „Wir haben sozusagen mit nichts begonnen, nur mit einfachen Figuren im Raum.“ Basis bei ‚Fra Cervello e Movimento’ ist die reine Dehnung. „Wir wollten mit keinem anderen Element arbeiten oder irgendeiner Hilfe oder der Möglichkeit sich zu verstecken.“ Greco setzte in einem White Cube an, entwickelte sieben Stationen, sieben «Notwendigkeiten», die später von ihm und Scholten auch in Heiner Müller nahe Worte gefaßt werden:
„Ich muß Ihnen sagen, daß mein Körper neugierig auf alles ist... Und ich, ich bin mein Körper. / Ich muß Ihnen sagen, daß ich meinen Körper kontrollieren und gleichzeitig mit ihm spielen kann. / Ich muß Ihnen sagen, daß ich nicht allein bin. / Ich muß ihnen sagen, daß mir mein Körper entgleitet. / Ich muß Ihnen sagen, daß Sie Ihren Kopf drehen sollen. / Ich muß Ihnen sagen, daß ich meinen Körper vervielfältigen kann. / Ich muß Ihnen sagen, daß ich Sie verlasse und meine Statue zurückbleibt.“
Wenn Greco im ersten Augenblick seines Auftretens in Bianco seinen Kopf mit roten Kirschen an den Ohren aus einem Vorhang hervorlugen läßt, blickt eine multiple Gestalt ins Auditorium. Es beginnt ein Gruppenstück aus einem Körper, welcher gewandt, präzise (gerade in den Passagen der Irritation), fragil und zugleich von einer fanatisch anmutenden Energie zusammengehalten, den streng definierten Raum stets kontrollieren wird. Einen Raum, der diesen kämpfenden Körper keine Sekunde aus den Augen der Betrachter läßt (auch wenn er zu Beginn versucht, sich hinter einem Leinentuch - das es in Rosso auch nicht mehr gibt – zu verstecken).
Der Körper vereinigt menschliche und tierische, vogelhafte Bewegungsmuster, scheint auf kleinste innere Impulse zu reagieren, ebenso auf lange Wellen des Raums. Die Identitäten des Körpers changieren, Heiterheit schwappt auf, wird von Panik gebrochen. Der analytische Hintergrund in Grecos Methode verschwindet hinter der spontanen Bühnenpräsenz der kleinen Figur im kurzen Kleidchen.
Die Identität des Vogels verschwindet unter einer grauen Perücke, eine Hand verselbständigt sich, sucht von hinten herum den Körper zu verdrehen, sich dahin zu spielen, wo die Grenzen der Anatomie des Ganzen ihr verbietet zu sein. Diese Limitationen werden von dem Tänzer immer wieder thematisiert; der Blick kehrt sich nach innen, folgt dem Blick der Zuseher, verführt ihn, weiterzuschauen, dorthin, woher die Bewegung kommt, in den weißen Kubus, das Innenleben der Figur. Deren Äußeres entweicht, bis die Statue, ‚Ne me quitte pas’ leiernd, verharrt, bis die Bewegung verdunstet ist und, was übrig bleibt, im Dunkel versinkt.
Metamorphosen und Transformationen geschehen noch intensiver in Rosso, das nicht in Tableaux, sondern in Zyklen gebaut ist. „Es gibt elastische Verbindungsglieder von einem Element zum nächsten und zurück zum Ausgangspunkt.“ In der Diskussion über Grecos Arbeitsweise tauchen Bilder vom ‚Lauf der Dinge’, vom Butterfly-Effekt auf: „Wie das Experiment mit dem Streichholz, das einen Mechanismus in Gang setzt, der etwas anderes in Bewegung setzt und so weiter...“
In Rosso gerät das Individuum in eine implosive Krise, der rote Raum, Lichtgewitter und Tonstürme scheinen sich auf die Figur zu stürzen, die gehetzt in ihrem Gefängnis taumelt, ins Leere weicht, nicht verschwinden kann. Ein kleiner weißer Vogel wird zum Zeugen dieses Desasters; und mit einem Schlag vollzieht sich die Metamorphose des Körpers: „Das Persönlichste ist zugleich das Universellste.“ Der Vogel verwandelt sich in ein Bindeglied mit dem Publikum, und die Selbstanalyse des Subjekts im Kubus seines Gehirns gerät zur Untersuchung an der Allgemeinheit.
„Ich versuche, zurück zu den Quellen der Vorstellungskraft zu gehen. Manchmal wissen wir um das Resultat eines Bildes Bescheid, nicht aber, woher dieses Bild kommt.“ Die Bildpunkte der Projektion des Gesehenen im Auge werden zu Studienobjekten einer künstlerischen Astrophysik. Die Wirklichkeit kann in eine geschriebene oder rechnerische Sprache übertragen werden, „oder in eine genauso klare Körpersprache, analytisch, introspektiv.“
Emio Grecos Zugang in der Erarbeitung seiner Stücke ist „stark instinktiv; ich bin immer überrascht davon, was aus dem Prozeß heraus entsteht“. Der Körper sei der primäre, an den Sinnen orientierte Motivator zum Lernen. Das Baby lerne nur durch den Körper. Geist und Körper sind in ihm eine Einheit, weil ein Gedächtnis noch fehlt und es zu wenige Informationen für den Geist gibt, die ihn befähigen würden, selbständig zu entscheiden oder zu analysieren. So archaisch war der Entdeckungsprozeß im Erlernen vor allem von Bianco. „Erst kam der Moment und dann der Versuch zu verstehen, warum der Moment passierte.“
Die geistige Kontrolle gibt dem Ganzen dabei eine Form. „An diesem Punkt ist es überraschend für den Geist, etwas ganz Unerwartetes zu bekommen, weil der Körper die Führung innehatte; das Chaos hat den Körper berührt. Der Geist kommt mit seiner Reflexion immer um eine Sekunde zu spät, er registriert die Bewegung erst, wenn sie bereits geschehen ist.“
Von der Bewegung zum Gehirn. Das ist auch der rezeptive Prozeß für den Zuseher, der die Bewegungen des Tänzers lesen soll. In Bianco wendet sich Greco direkt an sein Publikum, es möge ihm fünf Minuten Pause gewähren, und dreht ihm den Rücken zu. Das Publikum liest weiter – auch die Rückseite der Realität hat ihre Sprache.