Was ist Choreografie?

Corpus 17 Dec 2007English

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Contextual note
This text was a reply to a query by the magazine corpus, which sent out the question 'What is choreography?' to artists, theoreticians and other people active in the field of dance. The German translation was made by corpus.

Was ist Choreographie? Ich habe nie über diese Frage nachgedacht. Den Begriff zu definieren, eine Taxonomie zu erstellen, ihn in eine epistemologische Zone umzuwandeln – das scheint mir alles absolut impertinent zu sein. Aber doch taucht diese Frage in meiner Mailbox auf, während ich Enrique Vila-Matas' ausgezeichneten Roman Montano’s Malady lese, der mich dazu anregt, es zu überdenken. Vila-Matas' Protagonist ist ein Schriftsteller, der sprichwörtlich krank vor Literatur ist: seine ganze Wirklichkeit besteht aus Büchern, Zitaten und Phrasen, er träumt von Schriftstellern, und sogar der Sex mit seiner Frau droht intertextuell motiviert zu sein. An das Ende der Welt zu reisen hilft ihm nicht wirklich, seinem Zustand zu entkommen, und schließlich versucht er sein Leben zurück zu erhalten, indem er selbst Literatur wird und damit verhindert, dass die Literatur an Krankheit oder Verfall zugrunde geht. Eine wunderbar widersetzliche humanistische Verpflichtung.

Stellen Sie sich nun vor, Sie wären umgeben vom „ständig sich ausweitenden Gebiet des Tanzes“. Stellen Sie sich vor, die Choreographie mache Sie krank, Sie wüßten nur zu gut, was sie ist, wären ihre Inkarnation, würden Choreographie - und komplett verrückt. Stellen Sie sich vor, dass Sie keine Fleischklöße in Tomatensauce essen könnten, ohne an Le Sacre du printemps zu denken. Stellen Sie sich vor, Sie würden urplötzlich vom Ministry of Silly Walks heimgesucht, wenn Sie die Zeitung kaufen gingen. Stellen Sie sich vor, dass Sie immer der Überzeugung entsprächen, die Show müsse weiter gehen. Stellen Sie sich vor, sie wären gezwungen, sehr, sehr lange Zeit still zu stehen – jedes Mal, wenn Sie im Fernsehen Actionfilme anschauen oder Ihre Kinder in die Schule bringen sollten. Stellen Sie sich vor, Sie erhielten Einladungen von Beraterfirmen, als Mobilitäts- und Zirkulationsexperte zu arbeiten. Stellen Sie sich vor, dass Sie bei jedem Kaffee stark zitterten und begännen, diesen Umstand als Alibi für Ihr eigenartiges Benehmen vorzuschieben. Stellen Sie sich vor, Sie bombardierten corpus mit Eingaben betreffs Ihres unablässigen Gedankenstroms und Ihrer Abenteuer, ohne den ganzen Mist rauszuschneiden, so dass Sie das Magazin schließlich in eine Selbsthilfegruppe für Choreomanen verwandelten. Stellen Sie sich vor, die Choreographie wäre sowohl Ihr Schutzengel als auch Ihr schlimmster Alptraum.

Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich in einem Theater oder auf der Couch eines Psychiaters besser aufgehoben fühlen würden. Ich will es nicht wirklich wissen. Also lese ich weiter Vila-Matas' Roman und blättere noch durch Witold Gombrowicz' Ferdydurke: „Aber erst, als ich selbst zu tanzen begann, nahmen meine Gedanken Form an und verwandelten sich in Handlung, sie schmähten und spotteten über meine Umgebung und arbeiteten den schlechten Geschmack heraus. Ich tanzte, und mein Tanz, partnerlos und in Stille und Einsamkeit, wurde so hirnverbrannt, dass ich mich ängstigte.“