Das Monströse ersetzen

Anmerkungen über Transformation und Fiktion am Rande der Proben und Vorbereitungen zu REPLACEMENT von Meg Stuart/Damaged Goods

Programme note 11 Jan 2006German

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Contextual note
This essay was published in a programme book that accompanied the premiere of Meg Stuart/Damaged Goods' REPLACEMENT on January 11, 2006. Reference: in Christoph Gurk and Jeroen Peeters (eds.), Normal, Berlin, Volksbuehne am Rosa Luxemburgplatz/Alexander Verlag, 2006, pp. 13-30.

1.

„Monster können nicht angekündigt werden. Man kann nicht sagen, ‚hier sind unsere Monster,’ ohne dass sie nicht sogleich in Haustiere verwandelt werden.“ Der französische Philosoph Jacques Derrida verweist auf den Widerstand des Monsters gegen Sprache und ihre Klassifikationen und gegen genau die Frage, ob Monster einen ihnen gemäßen Platz im Diskurs und also im Leben, in der Geschichte und in der Gesellschaft haben können. Dennoch haben Monster eine lange kulturelle Tradition, da sie in Legenden und Mythologien auftauchen, zu Beginn der Moderne dann lange aus den Wissenschaften und der Medizin verbannt waren und heute schließlich eine fiktive Form im Schauerroman und im Horrorfilm finden. Was aber ist ein Monster? Wie ist ein Monster beschaffen, bevor es der Sprache oder der Fiktion einverleibt wird? Was ist mit unseren Monstern? Welche Monstrosität steckt in Alltagssituationen? Wie sieht die latente Monstrosität in den Gefühlen und Ausdrucksformen von Leuten aus?

Mich interessiert an dieser Stelle nicht die kulturelle Geschichte des Monsters, sondern eher eine Untersuchung dessen, wie das Monströse in Kunst und Kultur durch eine fiktionale Form repräsentiert bzw. ersetzt wird: Was steht bei diesem Transformationsprozess auf dem Spiel? Der Wörterbucheintrag für „monströs“ lautet: „1. Schockierend hässlich oder beängstigend. 2. Außergewöhnlich groß; gewaltig. 3. In Erscheinung oder Struktur stark von der Norm abweichend; abnormal. 4. Ähnlichkeit mit einem berühmten Monster oder abstammend davon.“ Die beiden Wörter ‚Monster’ und ‚monströs’ stammen vom mittelalterlichen lateinischen Verb ‚monstrare’, das so viel heißt wie ‚ausstellen’ oder ‚zeigen’.

Ist das Monströse immer schon durch die symbolische Ordnung domestiziert? Oder schlüpft es beständig durch die zwielichtige Zone der Transformation? Hin und her zwischen einer knotigen, trüben Form und einer differenzierten? Am Rande der Sichtbarkeit operierend ist das Monströse ein Symptom, das über sich selbst hinaus weist und eine latente und dunkle innere Realität zum Vorschein bringt. In ein verstecktes Reich verbannt besteht das Monströse hartnäckig als Riss in der schönen, glatten Oberfläche des ‚Normalen’. Hier gibt es einen Ansatz für Künstler: Wie kann man dem Monströsen eine fiktionale Form geben und gleichzeitig anerkennen, dass es auf eine widerspenstige, Schwierigkeiten bereitende und übergriffige Realität verweist, die der Macht der Metapher widersteht? Können monströse Gefühle und Erinnerungen überhaupt vollständig in einer emblematischen Form aufgehen? Oder wird diese Form des Ersatzes unausweichlich von der inneren Grauzone gejagt werden, aus der sie eigentlich zu schöpfen suchte? Wie erinnert man sich an die Gruppe von Operationen an der Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, dem Erlaubten und dem Verbotenen, dem Akzeptierten und dem Abgelehnten? Wie sie enthüllen, vielleicht entwirren? Geht es um das Ersetzen des Monströsen?

2.

Die Assoziation von Monstrosität und Sichtbarkeit, die durch die Wortetymologie geweckt wird, verwirrt. Das Wort hat, durch die Geschichte der Moderne hindurch, die umgekehrte Bedeutung angenommen, verbannt in das Reich des Unsichtbaren. In ihrem Essay ‚Dangerous Connections’ (Gefährliche Verbindungen) skizziert die Slowenische Philosophin und Performancetheoretikerin Bojana Kunst die Wichtigkeit der „modernen Obsession mit Differenzierung in Wissenschaft, Philosophie sowie Kunst“ als Verständnishintergrund für das Interesse heutiger Performance Art für das Monströse. „Unterscheidung ist nämlich der einzige Weg, das moderne Subjekt in das Zentrum der Welt zu stellen. Die Autonomie und (Selbst)Sicherheit des modernen Subjekts kann nur erreicht werden, indem die Dichotomien zwischen Mann und Frau, Kultur und Natur, das Natürliche und das Künstliche, das Lebende und das Nicht-Lebende geläutert werden. Das Monströse, das Zusammengestellte, das Unübliche, das Dazwischen und überhaupt das Verbindungen-Schaffen stellte durch die gesamte Geschichte der Moderne hindurch eine konstante Gefahr für die Verortung und den Status des modernen Subjekts dar.“

Lange Zeit wurden deformierte Arten und Anomalien nicht nur als ‚abnormal’ oder ‚monströs“ kategorisiert, sondern sogar als Untersuchungsobjekte aus der modernen Wissenschaft und Medizin ausgeschlossen. In seiner berühmte Untersuchung Das Normale und das Pathologische (1943) analysiert der französische Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem die Definitionen und Konzepte, die diesem Prozess unterliegen. Er zeigt, wie Normalität als Konstrukt funktioniert, und fragt sich, wie Wissenschaft den Komplikationen und Abschweifungen des Lebens einen Platz geben und der Intuition Rechnung tragen kann, dass der Mensch ein „lebendes Wesen ist, das nie vollständig zu Hause ist und dem Fehlerhaften unterliegt“, und dass „das Fehlerhafte an der Wurzel dessen sein muss, was menschliches Denken und dessen Geschichte ausmacht.“ Den Blickwinkel wechseln oder eine Metapher auf den Kopf stellen kann Wissenschaft auf den Weg bringen: „Sind Lebewesen in dem Maß ihrer Abweichung vom jeweils spezifischen Typ abnormal in dem Sinne, dass sie die spezifische Form gefährden, oder sind sie Erfinder auf dem Weg zu neuen Formen? Man betrachtet ein Lebewesen, das neue Züge trägt, mit jeweils anderen Augen, wenn man Fixist oder Transformist ist.“

Zurück zu Bojana Kunst, die eine Rolle für darstellende Kunst darin sieht, diesen ‚Transformismus’ neuer und hybrider Formen mit Freude und Enthusiasmus anzunehmen, diese Umkehrung von Differenzierung, ein Prozess, den sie ‚Monstration’ nennt. „Monstration erweist sich als ein Weg der Verkörperung, eine notwendige Positionierungstaktik zeitgenössischer Subjektivität, die ihrerseits aus einer Anzahl unmöglicher und gefährlicher Verbindungen hervorgeht. Die traumatische und zugleich köstliche Ausschweifung des Körpers als Autor ist nicht nur eine Konsequenz einer extrem unterdrückten Position, die der Körper in der westlichen Kultur generell innehat. Sie ist auch ein spielerischer Flirt und Ausstellung des post-humanen Körperbildes, dessen Verbindung mit dem Nicht-Menschlichen (Gefährlichen, Unüblichen) eigentlich eine seiner grundlegenden Züge ist.“

3.

Die Produktion von Monstern und Monstrosität, um die Grenzen von Wissenschaft, Subjektivität und der moralischen Ordnung zu testen, in denen sie verortet sind, ist ein gebräuchlicher Topos im Schauerroman. Monströs ist in Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818) nicht nur die Kreatur. Sie ist zugleich auch eine Metapher für eine exzessive Entwicklung von Wissenschaft, wie sie sich in Victor Frankensteins Experimenten niederschlägt. Interessant ist Frankensteins Begegnung mit der eigenen Kreation, diesem abstoßenden und doch so menschlichen Monster. Nachdem er beinahe zwei Jahre gearbeitet hat, muss Frankenstein zugeben, dass „die Zufälle des Lebens nicht so wechselhaft sind wie die Empfindungen der menschlichen Natur.“ In dem Moment, da die Kreatur erwacht, erfüllt dessen Anblick den Wissenschaftler mit Schrecken, verstrickt ihn in eine gefährliche Verbindung, füllt seinen Körper mit Angst und setzt eine enorme Menge an Verwandlungsenergie frei. Als er nach einer ruhelosen Nacht voller Albträume seinen Geist durch körperliche Übung zu erleichtern sucht, ist Frankenstein einem mentalen und körperlichen Prozess von Monstration unterworfen. Eine Choreographie, die es nicht vermag, das Monströse zu ermüden, und die doch ununterbrochen mit ihm umzugehen hat. Im Folgenden stelle ich einige Zeilen aus Shelleys Frankenstein zusammen:

Ich trat auf die Straße hinaus. Mit hastigen Schritten ging ich dahin, als ob ich dem Scheusal zu entkommen suchte. Bei jeder Straßenecke fürchtete ich von neuem, dass es sich meinem Blick darbieten würde. Ich wagte nicht, in meine Wohnung zurückzukehren, sondern fühlte mich vorwärtsgetrieben, obwohl ich vom Regen, der aus einem dunklen und unbarmherzigen Himmel herab rann, völlig durchnässt war. So ging ich eine Zeitlang dahin und erhoffte mir von der körperlichen Bewegung eine Erleichterung jener Last, die mir auf der Seele lag. Ich lief durch die Straßen, ohne mir bewusst zu sein, wo ich war oder was ich tat. Mein Herz klopfte angstvoll, und ich eilte mit unregelmäßigen Schritten dahin und wagte nicht, mich umzusehen. Dann begann ich zu zittern. Ich konnte kaum an mich halten. Es war nicht nur Freude, die mich erfüllte. Ich fühlte, wie meine Muskeln vor Übernervosität zuckten und wie mein Puls hastig klopfte. Ich konnte nicht einen einzigen Augenblick auf dem gleichen Platz bleiben; ich sprang über die Stühle, klatschte in die Hände und lachte laut. Die Gestalt des Ungeheuers, dem ich das Leben geschenkt hatte, stand immer von meinen Augen und erfüllte alle meine Phantasien.
(Übersetzung: Karl Bruno Leder und Gerd Leetz)

4.

Im zwanzigsten Jahrhundert hat der Schauerroman sein Gegenstück im Horrorfilm gefunden, wo Monster Haustiere von nicht zu verachtender Größe und von der Unterhaltungsindustrie gezähmtes Ungemach sind. Obgleich oft von grotesker Erscheinung, ist die Rezeption dieser Horrorfilme mit sozialen Ängsten verklumpt, spiegelt so die Zeiten und fungiert manchmal sogar als ein Ort der Kritik. Latent und unausgesprochen finden sich in Coopers und Schoedsacks Klassiker King Kong (1933) Rassismus und Kolonialismus, der Ausschluss und die Besetzung des Andersseins. Obwohl sie exotisierend inszeniert sind, sind es die Opferrituale der Eingeborenen, die die Angstökonomie des Films antreiben, während der Gorilla Kong im Grunde Abenteuer und Spektakel symbolisiert. Monstrosität scheint sich an vielen Orten aufzuhalten, doch ihre Aneignung durch die Unterhaltungsindustrie wird an zwei bemerkenswerten Szenen des Films deutlich.

Auf dem Weg zu Kongs Insel, organisiert der Filmemacher Carl Denham auf dem Schiff eine Probe mit der Schauspielerin Ann Darrow, die angesichts eines virtuellen Monsters immer wieder ein von Schrecken erfülltes Gesicht aufsetzt. Das Element des Films im Film fügt King Kong eine Meta-Ebene hinzu, da es den Blick und die Bildsprache Hollywood’scher Kinematographie doppelt. Interessant an dieser speziellen Szene ist jedoch der Akt des Probens. Es geht nicht so sehr um ein Leben in und durch Filmbilder, um für das echte Leben zu proben. Nicht um ein Proben im Angesicht des Todes, um sich dessen unwiederholbarer Natur zu stellen. Aber etwas dazwischen: Proben, um Angst zu konfrontieren, angetrieben durch einen Glauben an den Schein. Dieser Moment vor der Produktion kündigt eine ähnliche Operation nach der Produktion an: im Filmtheater sind die Zuschauer dazu aufgefordert, Fiktion und ihre Wiederholung anzuerkennen, während sie proben, ihre eigenen Ängste und monströsen Gefühle auszuhalten.

Gefangen, gefesselt und nach New York verschifft, wird der Gorilla Kong in einem Theater am Broadway gezeigt. Die Ausstellung von ‚Freaks’ war ein populäres Phänomen auf den Jahrmärkten des 19. Jahrhunderts, eine Ausbeutung von Monstrosität um der Unterhaltung willen. In King Kong fügt das Theater ein weiteres Element hinzu: das Monster ist gefesselt; aber ist es auch bereit, sich den komplexen Regeln des Theaters zu unterwerfen? Vom Blitzlicht eines Photographen verwirrt, befreit sich Kong, tritt durch die ‚vierte Wand’ des Theaters, und fährt dann fort, indem er das Theater zerstört und in die Stadt verschwindet. Unbelastet von den symbolischen Grenzen zwischen Fiktion und Leben, übergeht Kong mit Leichtigkeit die Macht des Spektakels. Im Gegensatz zu Marcel Duchamps Readymades, die sich der Definition des Museums ergeben, zeigt Kong, dass seine Verschleppung eine erfolglose Ersatzhandlung ergibt. Theater oder nicht, das Monster will kein Haustier sein.

5.

Eine der Wurzeln des Bildes ist in einem rituellen Austausch mit dem Tod begründet: wo das Leben aufhört zu existieren und der menschliche Körper zu verwesen beginnt, fungiert das Bild oder das materielle Objekt als ein Ersatz. Ein gebräuchliches Beispiel ist die Todesmaske, die, direkt vom Gesicht des Toten abgenommen, ihren Ersetzungsprozess greifbar macht. Figurative Skulptur unterhält viele Beziehungen mit dem Tod und hatte auf die eine oder andere Weise meistens eine Ersatzfunktion. Nachdem sich die westliche Kunst seit der Renaissance vor allem auf die Technologien der Repräsentation konzentriert hat, sind die rituellen Quellen von Bildern und deren Beziehung zum Tod im 20. Jahrhundert wieder von zentralem Interesse. Kunst und populäre Bildsprache als ein Ort, um mit Abwesenheit umzugehen, mit unsichtbaren Beziehungen und fernen Erinnerungen.

1933 kuratierte der kalifornische Künstler Mike Kelley die Ausstellung The Uncanny (Das Unheimliche), worin er, von Freuds Begrifflichkeiten geleitet, eine gewisse Qualität der figurativen Skulptur erkundete. Kelley spricht im Katalog von einem körperlichen Gefühl, das eng mit der Erinnerung an bestimmte starke, unheimliche, ästhetische Erfahrungen aus seiner Kindheit verbunden ist, frühere Gefühle, die scheinbar „von verstörenden, nicht erinnerbaren Erinnerungen“ provoziert gewesen waren. Für Kelley drehen sich die Produktion und der Gebrauch von bildhauerischen Ersatzobjekten sowie der Akt des Sammelns um diesen Verlust, ein Mangel, mit dem umgegangen werden muss. Fetische, Idole, Grabesbilder, Puppen, Wachsarbeiten, Mannequins und Dummys nehmen alle teil an Praktiken, die auf dem fußen, was Kelley „einfühlende Magie“ (‚sympathetic magic’) nennt: ein Glaube daran, dass die Ersatzobjekte so wie die Dinge selbst funktionieren könnten. Die mit ihnen ausgeübten Rituale ersetzen auch die „sozial destruktiven Praktiken von Menschen- und Tieropfern und das (Mit-)Begraben wertvoller Dinge.“

In unserer Welt voller Medienbilder verweist Kelleys Interesse, mit rituellen Praktiken verbundene Objekte wieder in den künstlerischen Kontext einzubinden, auf deren obszöne Verkehrung: Medienbilder von Gewalt erzeugen Gewalt. Dieses Phänomen ist eine bekannte Motivation für Zensur und begleitet regelmäßig die Beschreibung von Gräueln in der Zeitung, wenn wieder einmal ein Videospiel aus den Grenzen des Bildschirms ausgebrochen ist. Der britische Romancier J.G. Ballard hat diese obszöne Verkehrung von Ersatzobjekten und -Handlungen zum zentralen Thema seines visionären Werks gemacht: Wir inszenieren Gewalt und Horror, um das Tote unseres perfekten Lebens zu beleben: von der bizarren Wiederbelebung von Traumas in The Atrocity Exhibition (1970) und den Todesproben durch Autounfälle in Crash (1973) bis zu neueren Romanen wie Cocaine Nights (1996) oder Super-Cannes (2000), worin ein Rückzug zu inszenierter Gewalt der einzige Weg scheint, die Langweile eines glatten, sonnengebräunten, schönheitsoperierten, hyper-überwachten Lebens zu überwinden – alles erstickt in seiner vollendeten Fiktion. Was auch immer seine Natur sein mag, das Monströse jagt und infiziert unsere Fiktionen, die es zu ersetzen und erschöpfen suchen. Das Monströse besteht darauf, dass man sich mit ihm befasst, oder es rächt sich für seine Leugnung und kehrt in einer unerwartet grausamen Opferökonomie wieder.

6.

Durch komplexe Vermittlungstechniken wie Sammeln, Wieder-Erleben und Proben wollen Mike Kelley und J.G. Ballard einen Ort für Gewalt, Tod und monströse Gefühle in Kunst und Fiktion schaffen und gleichzeitig die Grenzen der Repräsentation testen. Anderswo scheinen nicht-künstlerische Medien weniger mit diesen Strategien befasst, getrieben wie sie sind von der widersprüchlichen Obsession, Monstrosität als solche, in ihrer unvermittelten Form zu verwerten.Die städtische Fiktion des Snuff Movie als das ultimative Dokument eines Austausches zwischen Leben und Bild durch ein Opferritual ist üblicher und wirklicher, als wir gerne zugeben würden. Der Irakkrieg hat eine recht große Anzahl weit verbreiteter Videoaufnahmen abgeworfen, die Köpfungen durch radikale Muslims dokumentieren. Ungeachtet der komplexen politischen und ökonomischen Motive letzterer haben diese Dokumente ein zweites Leben, wenn sie über das Internet durch so genannte alternative ‚Medien’ verbreitet werden, die eine unverständliche und doch unersättliche Begierde nach Monstrosität füttern.

„Kommst du mit dem Leben klar?“ fragt die Website Ogrish.com in ihrem Motto. Die Videoaufnahmen und Fotos, die man auf der Seite finden kann, sind ekelhaft und schockierend: eine Unzahl von Grässlichkeiten furchtbarer medizinischer und forensischer Dokumente bis zu Dokumentationen von Exekutionen. Die Ökonomie des Spektakels, mit der die Nachrichten heutzutage getränkt sind, ist hier zugleich vergrößert und verdeckt: „Wir sind der Überzeugung, der Welt einen Dienst zu erweisen, indem wir etwas zeigen, was die gewöhnlichen Nachrichten nicht zeigen. Ogrish bietet keine mit Zucker glasierte Version der Welt. Wir finden, dass Leute oft nicht wissen, was wirklich um uns herum passiert. Alles, was Sie auf Ogrish.com sehen, ist real, es ist Teil unseres Lebens, ob wir das mögen oder nicht. Wir veröffentlichen dieses Material, um jedem die Möglichkeit zu geben, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, so dass sie ihre eigenen Schlüsse ziehen können, anstatt sich mit den voreingenommenen Versionen der Welt zu arrangieren, die durch die Medien des Mainstream herausgegeben werden.“ Sind diese Dokumente wirklich so echt und unvermittelt, wie sie es vorgeben? Und auf welche Weise sind sie Teil unserer Leben? Wollen wir uns etwa diesen Dokumenten aussetzen, um das Bild durch eine traumatische Realität zu ersetzen? Nehmen wir an dieser Gewalt teil, um nach verlorenen oder veralteten echten Gefühlen zu suchen? Oder einfach um Schmerz als Motivation für eine angeblich realitätsnahe, kritische Antwort anzuerkennen und in der Lage zu sein, „für uns selbst zu entscheiden“?

Im Gegensatz zu den genau abgesteckten Arbeiten von Kelley, Ballard und anderen Künstlern sind die Dokumente auf Orgish.com dem Paradox des Obszönen unterworfen: gerade indem sie alles zeigen, gibt es nichts zu sehen, keine Wahrheit oder Bedeutung, die zu enthüllen wäre, außer einem bodenlosen Mangel. Der Versuch dieser Website, das Monströse zu begreifen, ist in einer Endlosschleife gefangen, sie bietet keine Perspektive auf das Knäuel geheimer Begierden, auf denen das Monströse gedeiht. Kann der Umstand, dem Monströsen ohne einen fiktionalen Rahmen ausgesetzt zu sein, jemals die Umwandlungsenergie freisetzen, die unsere tief in unser Leben verwurzelten Ideen über das Monströse und das Normale einem Risiko auszusetzen vermag?

7.

Vielleicht ist, wenn man über den Ersatz des Monströsen durch Fiktion nachdenkt, die letzte Frage immer die nach Leichtigkeit. Wie vermeidet man als Künstler oder Autor, der über die heutige Zeit sprechen will, von der Wirklichkeit erdrückt zu werden, von einer Welt voller Horror? Performance hat mit Verkörperung zu tun, was das Risiko beinhaltet, von einer gewaltsamen Wirklichkeit überwältigt zu werden, für die es keine Antworten gibt. In seinen Amerikanischen Vorträgen (1985) plädiert der italienische Autor Italo Calvino für Leichtigkeit, für einen geschmeidigen gewandten und geistreichen Gebrauch von Sprache, um sich der Schwere, Langsamkeit und Undurchsichtigkeit der Welt zu nähern. Er sagt, dass eine leichte und präzise Formulierung eine intensive Bewusstheit der Wirklichkeit beinhalten könne, ohne Risiko zu laufen, sich in dieser zu verfangen.

Der Mythos von Perseus, der Medusa besiegt, niedergeschrieben von Ovid in seinen Metamorphosen, liefert Calvino einige Bilder, die für sich selbst sprechen, aber auch helfen, seine eigene Poetik zu erhellen. Nur durch die indirekte Annäherung an den Kopf der Gorgo, durch Wegschauen, statt auf den Blick des Monsters zu antworten, schafft es Perseus, nicht versteinert zu werden. So ist Perseus’ Macht nicht die Verleugnung der monströsen Realität, sondern die Verweigerung ihrer direkten Wahrnehmung. Sogar nach Medusas Köpfung ist Perseus sehr vorsichtig im Umgang mit dem abgetrennten Kopf:

Wasser schöpft sich der Sieger und wäscht sich die Hände; das Schlangen-
Haupt der Meduse, es darf in dem körnigen Sand nich leiden:
Darum bestreut er den Boden mit Blättern, er häuft aus dem Meere
Stammende Zweige und legt das Gesicht der Phocynis darüber.
Siehe, die Zweige, die frischen, noch lebend vom saftigen Marke,
Spüren des schrecklichen Wesens Gewalt: die Berührung erstarr sie,
Ungewöhnliche Härte durchdringt das Laub und die Äste. Doch das erstaunliche Wunder versuchen die Nymphen des Meeres
Noch an anderen Zweigen und freuen sich, wenn sie es können:
Wieder und wieder verstreuen sie über die Wellen die Samen.
Immer noch bleibt den Korallen das nämliche Wesen: sie werden
Hart, wenn die Luft sie berührt, und was in dem Meere Gezweig war,
Wird, enthoben dem Meer, zu starrem Gesteine gestaltet.
(Ovid, Metamorphosen, Buch IV, Übersetzung: Hermann Breitenbach)


Literatur

  • Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, München/Wien, 1991
  • Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, München, 1982
  • Jaques Derrida, ‚Some Statements and Truisms about Neologisms, Newisms, Postisms, Parasitisms and other small Seismisms’ in The States of Theory, Herausg. David Carroll, New York, 1989, Seiten 63-94
  • Mike Kelley, The Uncanny, Ausstellungskatalog, Tate Liverpool und Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 2004
  • Bojana Kunst, ‚Dangerous Connections’, Frakcija, Nr. 20/21 (Herbst 2001) (www.kunstbody.org)