Rotes Fernglas zu den Sternen

Raimund Hoghes Solo ‘Another Dream’ im Mousonturm

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Zwei rote Friedhofslichter flackern im Dämmerlicht der Bühne. Ein kleiner, schwarzgekleideter Mann geht vor und hinter ihnen auf und ab. Seine Richtungswechsel erfolgen stets im rechten Winkel, während er ein kleines Schiffchen in der Hand hält, das er hin und herschwenkt wie ein Weihrauchfaß. Mahlers Musik aus Viscontis Film „Der Tod in Venedig“ erklingt dazu. Die Musik bricht ab, und die Sängerin Dalida fängt an, in ihrem Chanson das „Leben, Leben, Leben“ zu beschwören, während Raimund Hoghe sich dazu zu einem wilden Tanz hinreißen lässt. In „Meinwärts“, seinem ersten Solo aus dem Jahr 1994, beschäftigte sich der Künstler vor dem Hintergrund der vierziger Jahre mit der Biographie des Tenors Joseph Schmidt. In „Chambre separée“ aus dem Jahr 1997 ging es Hoghe um die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders. In „Another Dream“, dem letzten Teil der Trilogie, der nun im Frankfurter Mousonturm zu sehen war, dreht sich alles um den Aufbruch sechziger Jahre.

In Raimund Hoghes ganz und gar einmaligem Theater begegnet die Strenge des japanischen Theaters der amerikanischen Performance-Kunst und dem deutschen Expressionismus mit seinem Interesse an menschlichen Gefühlen. Die szenische Aktion bleibt dabei der Abstraktion vorbehalten, während die Emotion allein in den Liedern liegt. Auch „Another Dream“ folgt einer seriellen Lieddramaturgie. Ein Song, eine Aufgabe, die erfüllt werden muß. Diesmal sind es, dem Thema entsprechend, Lieder aus den sechziger Jahren, die, wie Mahelia Jacksons „Sometimes I Feel like a Motherless Child“ stets auch ein Stück Zeitgeschichte einfangen. Wie eine rituelle Beschwörungsformel wiederholt Raimund Hoghe „Ich erinnere mich“, um zunächst die Macht des Kinos über den zwölfjährigen Jungen heraufzurufen. Die beiden Friedhofslichter werden nun plötzlich zu einem roten Fernglas, mit dem Hoghe in die Sterne guckt, während „Somewhere“ aus der „West Side Story“ erklingt. Ein leerer Lichtkegel gibt dabei das Theater ab sowohl für Hoghes als auch für unsere Phantasien und Sehnsüchte, sich woanders hinzuträumen oder möglicherweise gar ein anderer zu sein.

Denn Hoghe formuliert seine Erinnerungen auf eine Art, die geschichtliche Ereignisse durch den subjektiv und rein privaten Moment hindurch aufruft. Vollkommen in sich versunken scheint er seine kleinen Aktionen nur für sich auszuführen. „Another Dream“ ist wie alle Arbeiten von Raimund Hoghe auch ein Spiel mit den Proportionen des Körpers im Raum und in sorgfältiges Auslegen von Bodenwegen, die, mit ein paar wenigen Gegenständen markiert, geometrische Muster ergeben. Doch sein „Ich“ ist immer auch ein Platzhalter für uns alle und unsere persönlichen Erinnerungen, auf die Hoghes Mittel abzielen. Sein Körper, der stellvertretend für uns auf der Bühne steht und der, durch einen Buckel versehrt, uns die Wirklichkeit stets nur durch die verschobenen Proportionen jenseits der Norm erfahrbar macht, entfaltet ein Netz von Bezügen und eröffnet uns so einen Zugang zur eignen Vergangenheit. Hoghes Arbeit erinnert in diesem Sinn auch an die kultische Funktion von Theater. Über kollektive und subjektive Erinnerungen stiftet er, einem Priester gleich, eine Art von Gemeinschaft.

Doch allzu weihevoll lässt es Hoghe dann doch nicht werden. Es darf durchaus auch gelacht werden bei seinem so streng anmutendem Solo. Wenn er zu Cilla Blacks albernem Song „One, two, three“ mit fünf federverzierten Stiften einen kleinen Cheerleadertanz aufführt oder sich zu Joan Baez’ bürgerrechtsbewegter Hymne „We Shall Overcome“ salonlöwenhaft auf dem Boden räkelt, ein Räucherstäbchen dekadent zwischen die Finger geklemmt, um damit den Takt zu schlagen, fängt er auch etwas von der Absurdität der Zeit ein. Hoghes mit großer Ernsthaftigkeit und absoluter Präzision ausgeführte Bewegungen sind immer auch Ausdruck eines unbändigen, fast kindlichen Lebenshungers. Das macht sie bei aller Einfachheit so komplex. Der Abend teilt sich in zwei Hälften. Nach gut einer Stunde sind die populären Schlager vorüber, und mit Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ beginnt der ernste Teil. Hoghe erinnert sich an das Café in Bielefeld, in dem Schwarze nicht bedient wurden. Er erinnert sich an das blutverspritze rosafarbene Kostüm von Jackie Kennedy, als ihr Mann in Dallas erschossen wurde. Er erinnert sich daran, dass Martin Luther King sich einen Tag vor seiner Ermordung wünschte, ein langes Leben zu haben. Raimund Hoghe beschwört die Ironie des Schicksals, die des Leben gerade als besonderes Leben auszeichnet, und endet doch auf einer hoffnungsvollen Note. „Wirf Deine Angst in die Luft“, heißt es in einem Gedicht von Rose Ausländer, die am Ende ihres Lebens ans Bett gefesselt war. Nichts anderes macht Raimund Hoghe mit jeder seiner Arbeiten immer wieder aufs Neue. Für seine Kunst können wir ihm dankbar sein.